Interview Thomas Müller: „Der ganze Fußballzirkus wird immer mehr, mehr, mehr“

Thomas Müller hält die Nationalelf für stärker als 2014 und kritisiert den aufgeblähten Spielplan: „Der ganze Fußballzirkus wird immer mehr, mehr, mehr“

Foto: Arne Dedert

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Évians-les-Bains Sein Marktwert wurde aktuell mit 75 Millionen Euro bemessen, bei der Europameisterschaft ist er damit hinter Cristiano Ronaldo und Gareth Bale der teuerste Spieler: Thomas Müller. Mit der DFB-Elf möchte der 26-Jährige vom FC Bayern München bei der Europameisterschaft in Frankreich seine Erfolgsstory fortschreiben. Im Interview in Évian-les-Bans spricht der 71-malige Nationalspieler (32 Tore) über seine neue Rolle im Team, den Mannschaftsgeist und die Vorrunde bei dieser EM: „Das ist keine Kindergartengruppe.“

Frage: Herr Müller, wie reizvoll wäre es, nach der Weltmeisterschaft auch die Europameisterschaft zu gewinnen?

Thomas Müller: Sehr. Wir haben eine Mannschaft, die objektiv gesehen das Potenzial hat, um Europameister zu werden.

Dafür bräuchte es aber mal ein Müller-Tor bei einer EM.

Müller: Bräuchte es nicht, wäre aber hilfreich. Deutschland wurde auch schon Europameister ohne ein Müller-Tor. Wenn ich mich recht erinnere, hat beispielsweise 1996 kein Müller mitgespielt.

Wie weit ist die Mannschaft wenige Tage vor dem ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine?

Müller: Grundsätzlich sind wir körperlich und geistig in einem guten Zustand und taktisch gut eingestellt. Wir wissen, was wir zu tun haben. Letztlich geht es jetzt um die Situationen auf dem Platz: Schießen wir den Ball ins Tor oder daneben. Gewinnen wir unsere Zweikämpfe oder nicht. Das macht es für den Zuschauer ja interessant, dass man nicht weiß, wie es laufen wird.

Das Turnier wird erstmals 24 Mannschaften haben. Befürchten Sie einen Spannungsabfall, da ja in der Vorrunde sogar der dritte Platz reichen könnte, um weiterzukommen?

Müller: Wir gehen jetzt nicht ins Turnier und verlassen uns darauf, dass wir viertbester Dritter werden. Aber für uns macht der Modus die Vorrunde nicht spannender. Aus Fan-Sicht kannst du sagen, es ist ein Spiel mehr Unterhaltung, und aus Sicht der kleineren Mannschaften ist es eine schöne Sache, dass sie bei einem Turnier mitspielen können. Es kommt wie immer im Leben auf den Blickwinkel an.

Sie gelten als Kritiker des aufgeblähten Spielplans.

Müller: Belastungsmäßig wird dieser ganze Fußballzirkus immer mehr, mehr, mehr, das ist die bedenkliche Entwicklung. Aber wie gesagt, für die anderen Parteien kann es auch positiv sein.

Ukraine, Nordirland, Polen, die Vorrundengegner klingen eher nach Qualifikation als nach Endrunde.

Müller: Die Mannschaften haben ihre Qualitäten, aber es ist keine Gruppe wie bei der letzten EURO, als wir gegen Portugal, Holland und Dänemark gespielt haben. So etwas brauche ich nicht jedes Mal, auch wenn wir da gut durchmarschiert sind. Aber ich sehe das nicht als Kindergartengruppe an. Es wird eine anspruchsvolle Aufgabe.

Wie hat sich die Mannschaft im Vergleich zur WM 2014 verändert?

Müller: Nach den Rücktritten von drei langjährigen Führungsspielern haben wir eine Zeit gebraucht, um wieder eine Führung in die Mannschaft reinzubekommen. Wir haben in einigen Spielen nicht die Ergebnisse geliefert und waren selbst nicht 100-prozentig zufrieden mit der Qualifikation. Im Zuge der Vorbereitung haben wir Strukturen ins Team bekommen. Die Voraussetzungen für gute Ergebnisse sind geschaffen worden.

Ist die Mannschaft besser oder schlechter geworden?

Müller: Wir können das ja alle nur subjektiv sehen. Unser Kader ist sicher noch breiter und tiefer aufgestellt. Auch die Spieler auf der Bank haben eine enorme individuelle Qualität. Aus dieser Sicht sind wir schon stärker geworden. Aber das heißt eben nicht, dass man auch mehr Spiele gewinnt.

Die EM in Frankreich wird Ihr viertes Turnier. Wie haben Sie sich verändert?

Müller: Bei der WM 2010 war ich eher damit beschäftigt, dass ich meinen Tagesablauf für mich selbst hinbekomme. Jetzt und auch 2014 war es schon so, dass ich meine Erfahrungen einbringe und den anderen helfe. Ich versuche in meiner jetzigen Rolle mehr das große Ganze zu sehen. Man darf dabei allerdings seine eigene Performance nicht aus dem Auge verlieren.

Sie gelten verantwortlich für gute Stimmung im Team. Sind Sie ernsthafter geworden?

Müller: Es war nie so, dass ich immer nur der Spaßvogel war. Wenn ein Thema Seriosität braucht, dann war die auch vorhanden. Auf dem Trainingsplatz kann man schon mal einen Spaß machen, aber wenn es um die taktische Arbeit geht, dann musst du auch funktionieren.

Bundestrainer Joachim Löw hat zuletzt mehr Wert auf Standards gelegt und eine Trainingsform mit Wettkampfcharakter eingeführt? Wie sieht die aus?

Müller: Wir haben zwei Mannschaften gebildet, jede überlegte sich ein paar Varianten für Offensiv- und Defensivstandards und dann haben wir gegeneinander gespielt. Wenn man nur ein paar Ecken reinschlägt, ist das von der Spannung her schwierig. Wenn aber ein Wettbewerb stattfindet, dann geht man in jeden Ball so rein, wie man es auch im Spiel machen würde.

Sehen wir wieder einen Müller-Trick wie 2014, als Sie bei einem Freistoß den Gegner durch einen Sturz irritieren wollten?

Müller (lacht): Das werden wir sehen.

Wie wichtig ist ein guter Mannschaftsgeist?

Müller: Er ist schon wichtig. Es ist nicht so, dass jeder Tag bis zum Anschlag mit Spaß gefüllt sein muss. Es geht darum, gemeinsam Dinge zu machen, Teams zu bilden, sich zu unterhalten, auszutauschen, unseren Teamgeist zu fördern. Es wäre nicht gut, wenn jeder nur auf sein eigenes Zimmer geht. Wir haben Treffpunkte im Hotel, können Billard oder Basketball spielen oder am Abend mal gemeinsam eine DVD schauen und ein bisschen kuscheln. Trotzdem sind wir hauptsächlich zum Fußballspielen hier, nur das das nochmal gesagt ist.

Hat die schwere Verletzung von Antonio Rüdiger die Stimmung getrübt?

Müller: Natürlich. Aber er hat das echt gut weggesteckt und wird auch wieder zurückkommen. Wir haben als Team zu ihm gehalten. Aber das macht dich nicht fröhlich, wenn so etwas gleich im ersten Training passiert.

Im Angriff gibt es eine Diskussion über die falsche oder echte Neun . . .

Müller: Ja, läuft die?

Und keiner weiß eigentlich, was eine falsche Neun ist. Was also ist eine falsche Neun?

Müller: Eine falsche Neun ist eigentlich nur Lionel Messi, der sich ein bisschen fallen lässt und dann vier Spieler ausdribbelt und ein Tor vorbereit. Eine echte Neun ist einer, der sich nicht fallen lässt und trotzdem Tore schießt. Oder wie seht ihr das?

Letztlich geht es um die Frage: Strafraumstürmer oder nicht?

Müller: Klar, und die Antwort hängt von Spielsituationen und vom Gegner ab. Manchmal ist es ganz gut, wenn man einen Spieler vorne drin hat, der auch mal kurz kommt, um eine Überzahl im Mittelfeld zu schaffen. Wenn aber zehn Flanken in den Strafraum kommen, wäre ein Spieler gut, der acht davon verwertet. Wir haben beide Optionen und müssen dafür sorgen, dass das System funktioniert, egal welches.

Machen Sie sich Sorgen um die Sicherheit bei dieser EM? Wird Ihre Familie im Stadion sein?

Müller: Es ist kein gewöhnliches Turnier, was die Sicherheitslage betrifft. Ich habe kein Problem damit, wenn meine Frau und die Familie zuhause bleiben, aber auch keines, wenn sie ins Stadion kommen. Meine Frau wird das spontan entscheiden. Natürlich versucht man, vorsichtig zu sein. Aber es bringt auch nichts, jetzt Angst zu schüren. Das Thema ist schwer einzuschätzen, die eine große Lösung gibt es nicht. Ich bin der Meinung, dass man sich nicht zu sehr einsperren und die Freiheit nehmen lassen darf.

Wird es für Sie nicht ein seltsames Gefühl sein, beim zweiten Gruppenspiel gegen Polen wieder ins Stade de France in Paris zu kommen, wo im vergangenen November ein Anschlag verübt wurde?

Müller: Natürlich könnte man daran zurückdenken. Aber ich bin eher ein Nachvornedenker und vertraue den Sicherheitskräften.