Gruppe B Wales: Es geht auch anders
Die Waliser feiern beim ersten Auftritt bei einer EM in Bordeaux einen glücklichen Sieg und ein fröhliches Fest — ob das nächsten Donnerstag beim England-Spiel in Lens so bleibt, kann aber niemand sagen.
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Bordeaux. Zur Abwechslung auch mal einen Orangensaft, das müssen sich die meisten walisischen Anhänger am Sonntagmorgen in Bordeaux gedacht haben. In den Cafés am Ufer der Garonne nahe der Pont de Pierre, in den Frühstückrestaurants am Gare St. Jean wurde der Kater eines feucht-fröhlichen Abends auskuriert, während die Kehrmaschinen herumsausten, um vor allem zerborstene Plastikbecher vom Trottoir zu fegen.
Viel mehr ist nach offenkundigem Eindruck bei der EM-Premiere in Bordeaux nicht zu Schaden gekommen, obwohl Schätzungen besagen, dass bis zu 20.000 Fans in eine 250.000-Einwohner-Stadt strömten, die früh beschlossen hatte, ihre Gäste mit offenem Armen zu empfangen. Weil der gemeine Waliser (und erstaunlicherweise in ihrem Schlepptau etliche Engländer) zum Auftakt gegen die Slowakei (2:1) einfach ein Fußballfest zelebrieren wollte. Mit all der Folklore, die nun einmal dazugehört. Aber weder aus den engen Gassen der Altstadt mit ihren denkmalgeschätzten Häusern noch von der mächtigen Fanzone am Esplanade des Quinconces sind unschöne Szenen übermittelt. Im Gegenteil. Viele französische Hotelbesitzer und Apartmentvermieter äußerten sich voll des Lobes über Menschen, die im feuerroten Trikot mit dem Drachen-Logo auch zu Bett gingen.
Nicht nur sie hat tief in der Nacht Bestürzung ergriffen, als die Bilder aus Marseille auch Bordeaux erreichten. Denn unbewusst hatte der Underdog ja das Kontrastprogramm beigesteuert. Seht her, es geht auch anders. Und es bringt so viel mehr. Vor allem der Unterstützung durch die rote Wand, die sich auf anderthalb Tribünenseite des Stade Matmut Atlantique ausbreitete, schoben der walisische Trainer Chris Coleman und Starspieler Gareth Bale den Sieg zu.
„Der Support war von Anfang bis Ende beeindruckend“, lobte Coleman, und der 46-Jährige benutzte wiederholt die Bezeichnung „incredible“ (unglaublich), um die Symbiose zwischen den Rängen und dem Rasen zu beschreiben. Vom einem „geschichtsträchtigen Moment“ sprach auch der aufgewühlte Bale. Den 26-Jährigen schien der erste EM-Erfolg mit dem Nationalteam im weißen Prachtbau von Bordeaux mehr zu berühren als unlängst der Champions-League-Sieg mit Real Madrid im San Siro von Mailand. Der teuerste Fußballer der Welt ballte bei Abpfiff beide Fäuste, spannte die Brust — und schrie seine Freude heraus.
Für seinen smarten Coach war nicht der haltbare Freistoßtreffer zum 1:0 (10.) Bales wichtigste Aktion, sondern zwei zeitbringende Sprints in der Schlussphase. Denn: „Es geht nicht um Bale, es geht um Wales.“ „Now that was worth the wait“ (Das war das Warten wert) titelte die „Wales on Sunday“. Und natürlich durfte die Geschichte des Siegtorschützen Hal Robson-Kanu (81.) nicht fehlen, dessen Arbeitsvertrag beim englischen Zweitligisten FC Reading ausläuft. Der in London geborene Stürmer kam erst 2010 auf die Idee für Wales zu spielen, woher seine Großmutter stammt. Seine „Drachen“ blicken nun mit einem ganz anderen Selbstverständnis auf das Duell gegen England zum zweiten Gruppenspiel am Donnerstag.
Vor allem für diese prestigeträchtige Paarung sind die meisten Unterstützer von der Insel angereist. „Wenn wir unser Allerbestes geben, müssen wir uns keine Sorgen machen. Wir fürchten niemanden“, erklärte Coleman mit cooler Pokermiene. Bale blickte entschlossen in die Reportertraube, als er formulierte: „Jetzt muss England was zeigen: Wir haben unseren ersten Teil erledigt.“ Der Rivale würde sich groß machen, bevor er etwas erreicht habe. „Ich denke, dass wir mehr Leidenschaft und Stolz haben.“ Es sei wie jedes Derby, „du willst niemals gegen den Feind verlieren.“ Das klang nicht nur nach Kampfansage.
Ob allerdings Lens für dieses aufgeladene Kräftemessen der richtige Ort ist, bleibt fraglich. Die französische Kleinstadt gilt als blutgetränktes Pflaster, seitdem bei der WM 1998 der französische Polizist David Nivel von deutschen Hooligans fast totgeschlagen wurde. Würden die britischen Rivalen sich 18 Jahre später in jeglichem Gewaltverzicht üben, wäre das ein starkes Zeichen.
Wer Anhänger der „Dragonheart“ jedoch nun dazu befragte, der bekam Seltsames zu hören. Dass es noch einmal so ein unbeschwertes Fest geben wird wie in Bordeaux, wollte kaum jemand versprechen. Bleibt es denn wenigstens friedlich? Vielsagende Antwort: ein Schulterzucken. Vielleicht füllen sie in Lens in die Bierfässer jetzt schon mal Orangensaft.