Gruppe E Belgien in der Pflicht
Die Belgier beginnen die EM 2016 so wie sie die WM 2014 beendet haben: mit einem Kräftemessen gegen eine große Nation, die sie selbst eigentlich schon sind. Dabei trägt Kevin De Bruyne besondere Verantwortung.
+++Alle Spiele - Alle Tore - Alle Statistiken: direkt im EM-Livecenter+++
Bordeaux. Es ist nur eine unscheinbare Abzweigung, die von der Rue Joliot Curie auf das Trainingsgelände von Girondins Bordeaux führt. Eine lange Stichstraße, die mit einem kleinen Kreisel mit drei Fahnenmasten beginnt, dann taucht der Besucher in das Château du Haillan ein, das Einheimische nur „Haillan“ nennen. Für Nostalgiker ist Bordeaux ja nicht nur eine Hochburg der Bourgeoisie, sondern auch des Fußballs — zumindest für Mitte der 80er Jahre galt das, als Jean Tigana, Alain Giresse oder der Deutsch-Franzose Gernot Rohr in einer stilprägende Epoche drei Meistertitel holten.
Insofern hat sich die belgische Nationalmannschaft einen historischen Ort ausgesucht, um diese EM-Mission anzugehen. Das Terrain für Training und Medientermine liegt zudem ausgesprochen günstig: nicht weit weg von einem Golfhotel, in dem die Fußballer fern vom Trubel in den betörenden Altstadtgassen oder den belebten Uferstraßen an der Garonne wohnen. Schließlich haben die Roten Teufel fast turmhohe Erwartungen mit nach Südfrankreich gebracht: Längst nicht nur Flamen und Wallonen, sondern ganz Europa traut ihnen zu, das Turnier zu prägen. Der Status des Geheimfavoriten war gestern. Sogar Bundestrainer Joachim Löw hat Belgien auf der Titel-Rechnung. Wer bitte ist denn Weltranglistenerster? „Mit dieser Mannschaft musst du bei den ersten Vier sein", sagt auch der ehemalige belgische Nationaltorwart Jean-Marie Pfaff.
„In Belgien träumt man schon davon, dass man Europameister ist." Das Unikum Pfaff schien 1980 schon an der Reihe, doch dann überwand den späteren Bayern-Torwart ein gewisser Horst Hrubesch im EM-Finale von Rom zweimal — und seine Generation blieb all die Folgejahre ohne Titel. Für die Nachfolger von Jan Ceulemans und Co. steht das Ergebnis über dem Erlebnis. „Champagner-Fußball interessiert mich nicht, verkündete der aktuelle Nationaltrainer Marc Wilmots vor dem ersten Spiel in Lyon gegen Italien (Montag 21 Uhr).
Der 47-Jährige setzt darauf, dass Stars wie Kevin De Bruyne und Eden Hazard aus der bitteren Erfahrung gelernt haben, als bei der WM 2014 das Stoppschild im Viertelfinale gegen den späteren Finalisten Argentinien auftauchte. Und sie mit dem dummen Gefühl gingen, doch gar nicht schlechter als der ausgebuffte Gegner gewesen zu sein. Damals erweckte die Elf in dem Abnutzungskampf in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia irgendwie den Eindruck, als fehle ihr der letzte Behauptungswille.
De Bruyne war damals so enttäuscht, dass er mit einer Plastiktüte in der Hand und Tränen in den Augen wortlos durch die Katakomben stakste. Den bald 25-jährigen Freigeist nimmt Wilmots besonders in die Verantwortung: „Kevin findet, peu à peu, sein Niveau wieder. Er ist jemand, der den Unterschied machen kann. Er hat aber eine schwere Saison hinter sich.“ Da sei der Transfer vom VfL Wolfsburg zu Manchester City gewesen, die Geburt seines Sohnes: „Es hat sich das eine oder andere in seinem Leben verändert.“ Doch wenn nicht jetzt, wann dann zeigt diese „phänomenale Generation“ (Italiens Nationaltrainer Antonio Conte) ihr Potenzial?
Eine komplette Elf aus dem Kader kann mit Arbeitgebern in der Premier League prahlen; auch Torwart Thibaut Courtois (Chelsea), die Verteidiger Toby Alderweireld und Jan Vertonghen (beide Tottenham), Mittelfeldantreiber Marouane Fellaini (Manchester United) oder die Stürmer Christian Benteke und Divock Origi (beide Liverpool) sind auf der Insel hoch angesehen. Andere wiederum stehen beim FC Barcelona (Thomas Vermaelen), Atletico Madrid (Yannick Ferreira-Carrasco), AS Rom (Radja Nainggolan) oder SSC Neapel (Dries Mertens) unter Vertrag. Sie alle stehen in der Pflicht, bei diesem Turnier weit zu kommen — mindestens bis in ein mögliches Viertelfinale gegen Deutschland. Da muss es wie eine Provokation wirken, wenn der italienische Stürmer Lorenzo Insigne sagt, Belgien stehe „in der Abwehr nicht sehr kompakt“, nur weil Abwehrchef Vincent Kompany verletzt ausgefallen ist. Wilmots Replik: „Den Artikel lasse ich ausdrucken und in der Kabine aufhängen.“
Seine Angriffslust auf der Pressekonferenz am Samstag kann durchaus Sinnbild für seinen Spielstil sein. „Wenn wir im Ballbesitz sind, dann dürfen die Offensivspieler ihre Positionen frei wechseln.“ Trotzdem taten sich sein illustres Ensemble in den Testspielen gegen die Schweiz (2:1), Finnland (1:1) und Norwegen (3:2) teils enorm schwer. Wilmots sah sich daher die ersten Tagen in Bordeaux etlicher scharfzüngiger Fragen ausgesetzt, auf die das einstige Schalker „Kampfschwein“ nicht immer souverän reagierte. Die bessere Antwort kann seine Elf nun auf dem Platz geben.