Russlands Coach vor WM Tschertschessow: „Löw hat zu viele Spieler, ich zu wenige“
Moskau (dpa) - Russlands Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow will bei der Fußball-WM im eigenen Land so weit wie möglich kommen, hat aber großen Respekt vor Titelverteidiger Deutschland.
„Wir müssen ein richtig starker Gastgeber sein“, sagte der Ex-Bundesligaprofi der Deutschen Presse-Agentur in Moskau 100 Tage vor Beginn der Weltmeisterschaft. Zugleich warnte er vor überhöhten Erwartungen an die Sbornaja. „Wir müssen uns selbst gegenüber objektiv bleiben. Deutschland gehört klar zu den Favoriten. Und auch Teams wie Brasilien, Argentinien und Frankreich stehen auf der Favoritenliste deutlich höher als wir.“
Tschertschessow sagte, er sei nicht böse, dass ein WM-Spiel gegen Deutschland aufgrund der Gruppenarithmetik erst sehr spät möglich ist. „Wir können erst im Halbfinale oder Finale auf Deutschland treffen. Wenn wir so weit kommen, bin ich der glücklichste Mann der Welt.“
Die Sbornaja eröffnet die Fußball-WM am 14. Juni gegen Saudi-Arabien. Weitere Gruppengegner sind Ägypten und Uruguay. Deutschland spielt in Gruppe F gegen Mexiko, Schweden und Südkorea.
Russland hofft darauf, bei der Heim-WM erstmals das Achtelfinale zu erreichen, wie Tschertschessow kürzlich gesagt hatte. Auf Nachfrage gab er sich nun zurückhaltender: „Wir müssen von Schritt zu Schritt denken.“ Bis Juni sind noch Testspiele geplant, unter anderem gegen Top-Teams wie Brasilien und Frankreich. Beim Confed Cup musste man Mexiko und Portugal den Vortritt ins Halbfinale lassen.
In der Vorbereitung gehe es darum, die Sbornaja konkurrenzfähig zu machen, sagte Tschertschessow beim Gespräch in seinem Büro im Haus des Fußballs. „Wir müssen unsere Defensive verbessern.“ Zuletzt habe die Mannschaft unnötige Gegentore nach Fouls kassiert. „Am Trikot ziehen, ein Foul am Strafraum, das muss nicht sein“, meinte er. „Wir müssen auch unser Stellungsspiel im Angriff verbessern.“
Den deutschen Bundestrainer Joachim Löw beneidet Tschertschessow nicht um seine großen Auswahlmöglichkeiten für den WM-Kader. Die beiden kennen sich aus der Zeit, als Löw 2001/2002 Tschertschessows Trainer beim FC Tirol Innsbruck war.
Im Spaß habe er Löw bei einem Treffen kürzlich gesagt, sie beide hätten Kopfschmerzen. „Wir haben die gleichen Symptome, aber die Diagnose ist eine andere: Er hat zu viele Spieler, ich habe zu wenige“, sagte Tschertschessow. „Oft ist es schwierig, aus guten Jungs die richtigen auszuwählen. Bei mir ist das genauso. Wenn du nur wenige zur Verfügung hast, musst du auch gut auswählen.“
Auf einen Platz im Team dürfen die Ex-Bundesligisten Konstantin Rausch und Roman Neustädter hoffen. „Beide haben gute Chancen“, sagte Tschertschessow. „Jetzt müssen sie gesund und fit bleiben, alles Weitere wird sich in der laufenden Meisterschaft zeigen.“ Beide haben die russische Staatsbürgerschaft angenommen.
Tschertschessow ließ durchblicken, dass er Rauschs Wechsel zur Winterpause vom 1. FC Köln zu Dynamo Moskau aktiv begleitet hat. „Der Präsident von Dynamo hat mich angerufen und zu Rausch befragt.“ Er habe Rauschs Schnelligkeit auf der linken Seite beschrieben. „Meiner Meinung nach war das die richtige Entscheidung. Er macht einen guten Eindruck.“ Und auch Neustädter habe er bei Fenerbahce Istanbul im Blick. Er sei in der Türkei gewesen und habe sich Spiele angeschaut.
Im Zuge des russischen Doping-Skandals war auch der Fußball ins Schlaglicht gerückt. Medien hatten über Vorwürfe gegen Spieler der Sbornaja bei der WM 2014 berichtet. Tschertschessow will sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Uns betrifft das nicht“, sagte der hochgewachsene Trainer mit dem markanten Schnauzbart.
Tschertschessow leitet die Sbornaja seit Sommer 2016. Der Ex-Torwart von Dynamo Dresden hatte das Team nach einer Schlappe bei der EM in Frankreich übernommen. Damals stand die Sbornaja in der Kritik. „Uns freut, dass die Zuschauer uns inzwischen anders bewerten. Wir haben ein positiveres Image als früher“, sagte er. „Wir sind ein Team geworden. Wir haben an unserer Mentalität gearbeitet, jetzt können wir richtig Gas geben.“ Und wie er das hinbekommen habe? „Wir haben einen Generationenwechsel vollzogen. Aber ohne Revolution“, sagte er.
Zu seinen eigenen Plänen nach der WM hielt sich Tschertschessow bedeckt. „Ich bin kein Träumer“, sagte er. „Im Kindergarten kann man träumen, aber im Profifußball träumen wir nicht, wir setzen Ziele. Ich denke nicht an die Zeit nach der WM. Ich denke von Tag zu Tag.“