Argentiniens Hoffnung: Der Floh und die kleine Pfeife
„La pulga“ und „Pipita“: Lionel Messi und Gonzalo Higuain sind aus dem Offensivquartett übrig geblieben.
Sao Paulo. Wer noch nicht dabei gewesen ist, hat etwas verpasst. Wie eine lärmende Masse in hellblauweißen Hemden ins Stadion zieht. Wie eine aufgewühlte Meute voller Inbrunst ihre Nationalhymne schmettert. Wie vibrierende Menschen sich wild die Jerseys vom Leib reißen und damit wirr durch die Luft wirbeln. Und alles kumuliert in diesem einen Moment, bei dem der Stadionsprecher die Aufstellung verliest; Nummer für Nummer, Namen für Namen.
Bei der „Eins“, Sergio Romero, gibt sich die entrückte Gefolgschaft der „Albiceleste“ vergleichsweise leise, aber schon der Beifall für die „Neun“, Mittelstürmer Gonzalo Higuain, löst einen lauten Jubelsturm aus, der zum Orkan anschwillt. „Dez“, heißt es auf Portugiesisch für die „Zehn“, und dann: „Lionel Messi.“ Der Rest ist ein einziges, nicht endendes Gebrüll.
Kein Team scheint so auf eine Einzelfigur fokussiert wie die Argentinier, die am Mittwoch in São Paulo gegen die Niederlande (22 Uhr/ARD) zum zweiten Halbfinale antreten. Nationaltrainer Alejandro Sabella hat es längst aufgegeben, den Personenkult einzubremsen. „Jede Bewegung, die Messi macht, ist ein Zeichen der Hoffnung für uns.“ Selbst wenn der 27 Jahre alte Volksheilige einmal nicht trifft. Denn dafür gab es im Viertelfinale gegen Belgien ja seinen Kumpel Higuain, der mit seinem 21. Treffer im 41. Länderspiel eine Flaute von 528 Minuten im Nationaltrikot beendete.
„Ich habe immer gesagt, dass ich mich nicht verrückt machen lasse“, sagte er hinterher. Für die argentinischen Anhänger wäre ein Scheitern am Mittwoch im Itaquero eine mittelschwere Katastrophe, aber eine erste Skepsis scheint greifbar, weil mit Sergio Agüero und Angel di Maria gleich die Hälfte der „los 4 fantásticos“ — der fantastischen Vier — fehlt.
Gerade Messis wichtiger Spielpartner di Maria präsentierte sich wie zuletzt bei Real Madrid in fantastischer Verfassung, aber seine Muskelverletzung macht ein Mitwirken unmöglich. Vielleicht ganz gut, dass Higuain aufgetaut scheint. Der bärtige 26-Jährige hat anfangs schwerfällig ausgesehen.
Der inzwischen beim SSC Neapel gelandete Stürmer — insgesamt spielen sieben Argentinier in der Serie A — wird in der Heimat dann viel eher kritisiert als andere, was auch daran liegt, dass Higuain 2006 fast französischer Nationalspieler geworden wäre. Er kam in Brest an der bretonischen Küste zur Welt, wo sein argentinischer Vater damals Fußball spielte, ein echter „Gaucho“ ist er erst seit 2007.
Von Señor Jorge erbte er nicht nur das Talent, sondern auch den Spitznamen. Schon ihn hänselten sie wegen seiner langen Nase als „Pipa.“ Und aus dem Junior wurde „Pipita“. „Eine Pipa ist eine lange Pfeife zum Rauchen“, hat Higuain einmal erklärt, „und so wurden mein Bruder und ich einfach zu Pipitas, also kleinen Pipas.“ Das passt doch gut zu „la pulga“, dem Floh, wie Messi heißt.
Dass sich die beiden zurückhaltenden Charaktere privat gut verstehen sollen, kann zum argentinischen Schaden nicht sein. Denn ihre Fußball-Geschichte hat schließlich gelehrt, dass einer allein — Diego Maradona hin oder her — dann noch nicht Weltmeister werden kann. 1986 brauchte es nicht nur „die Hand Gottes“, sondern auch Jorge Valdano. Der schlaksige Mittelstürmer war derjenige, der im Finale in Mexiko City gegen Deutschland traf, als Maradona nicht in Erscheinung trat. Am Ende hatte Valdano vier Treffer erzielt, Maradona fünf. Derzeit steht Messi bei vier, Higuain bei einem Tor. Es gibt also heute noch was zu tun, wenn sich ihre entrückten Unterstützer wieder die Seele aus den Leibern schreiben.