Frankreich staunt über eigene Stärke
Ribeirão Preto (dpa) - Die Grande Nation feiert ein unerwartetes Sommermärchen. Zwei Galavorstellungen haben Frankreich zum gefürchteten WM-Geheimfavoriten aufsteigen lassen und in der Heimat Titelträume geweckt.
„Favoriten“, titelte die Sportzeitung „L'Équipe“ groß auf Seite eins. Nach dem 5:2-Torfestival gegen die Schweiz stimmten sogar die schärfsten Kritiker der Equipe tricolore in den Chor der Begeisterung ein. „Wenn man so siegt, macht man den anderen Angst. Dieses Team kann weit kommen. Für mich war Frankreich bisher das beste Team des Turniers“, lobte der frühere Nationalspieler Luis Fernandez.
Mit dem 3:0 im Auftaktmatch gegen Honduras und der Deklassierung des Teams von Ottmar Hitzfeld in Salvador haben „Les Bleus“ erstmals seit dem WM-Triumph 1998 bei einem großen Turnier zwei Vorrundensiege nacheinander gefeiert. Für Euphorie sorgt vor allem die Qualität und die Schnelligkeit der im TGV-Tempo attackierenden Mannschaft. Von einer „magischen Vorstellung“ und einem „wahren Konzert“ schrieben die Zeitungen. Das Team gehöre wieder zur „Crème de la crème“, befand der frühere Bayern-Profi Bixente Lizarazu.
In Paris und anderen Großstädten Frankreichs stimmten Autofahrer Hupkonzerte an. Präsident François Hollande übermittelte, er sei „stolz“. Auch andere ranghohe Politiker und Künstler wie Starsänger Patrick Bruel („Was für ein Team! Noch fünf Spiele!“) jubelten auf Twitter. 17 Millionen Zuschauer sorgten für die höchste TV-Quote des Jahres.
Auch im Ausland eroberte das Team um Torjäger Karim Benzema die Herzen im Sturm. „Yaaaaaassssssss France“, twitterte Pop-Ikone Rihanna. Das brasilianische Sportblatt „Lance“ erhob Frankreich - in Anlehnung an den niederländischen „Fußball total“ der 1970er Jahre - zur „mechanischen Baguette“.
Dabei hätte noch vor ein paar Tagen kaum jemand einen Cent auf die Franzosen gesetzt. Erst recht nicht, nachdem Bayern-Profi Franck Ribéry wegen chronischer Rückenschmerzen die WM-Reise absagen musste. Die Chaos-WM 2010 mit Vorrunden-Aus und Trainingsstreik und die vielen Querelen der vergangenen Jahre waren auch nach den guten Testspielleistungen bei Fans und Medien keinesfalls vergessen.
Kein Wunder, dass die Spieler von der eigenen Stärke selbst überrascht sind. „Das hat unsere Erwartungen übertroffen“, räumte Innenverteidiger Raphaël Varane ein. Der WM-Titel scheint nun nicht unerreichbar. „Träumen darf man. Wir setzen uns hier keine Grenzen.“ Die Statistik spricht für den Einzug ins Endspiel: Denn seit dem Titelgewinn vor 16 Jahren flog Frankreich in regelmäßigem Wechsel entweder in der Vorrunde raus oder rauschte bis ins Finale. „Frankreich hat viel individuelle Klasse. Sie gehören neben einigen anderen sicher zu den Mannschaften, die hier sehr weit kommen können“, meinte Schweiz-Coach Ottmar Hitzfeld.
Sein Kollege Didier Deschamps, sonst die Zurückhaltung in Person, ließ sich von der Begeisterung kurzzeitig mitreißen. Die Stimmung im Team und im Umfeld sei wie 1998, befand er. Um dann aber schnell den verbalen Rückzug anzutreten: „Aber eigentlich darf man das nicht mit 1998 vergleichen.“ Angesichts der bärenstarken Auftritte am Zuckerhut möchte man hinzufügen: Noch nicht.