Lahm — der kleine Capitano
Vor vier Jahren löste er Michael Ballack als Kapitän ab — und rückt jetzt immer stärker ins Spiel-Zentrum.
Santo André. In der Geschichte der Menschheit waren Anführer meist groß, stark, schlau, redegewandt oder charismatisch. Im besten Fall waren sie alles zusammen. Sie sind vorausgegangen, wenn der Wind von vorne kam oder der Gegner die Übermacht gewann.
Die Frage, die sich für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und ihren Plan, in Brasilien Weltmeister zu werden, daraus ergibt: Kann Philipp Lahm ihr Anführer sein, und wenn er es kann, benötigt ihn die Mannschaft in diesem Amt überhaupt, wo doch jedes halbwegs fortschrittliche Unternehmen flache Hierarchien predigt?
Wie er überhaupt in das Amt gekommen ist, beantwortet zumindest den ersten Teil der Frage. Die Kapitänsbinde war ihm 2010 zugefallen. Damals war Michael Ballack der Spielführer. Ein mächtiger Anführer, der nie die Frage aufkommen ließ, ob die Mannschaft einen Boss auf dem Feld benötigt oder nicht.
Einer mit Ehrentitel sogar: „Capitano“. So geadelt von Jürgen Klinsmann. Doch der Capitano fehlt in Südafrika verletzt. Lahm, sein Vertreter, übernahm das Amt, stellte noch während der WM klar, dass er freiwillig nicht mehr abtreten werde. Hätte man dem kleinen Philipp nicht zugetraut.
Andererseits ist die Menschheitsgeschichte voll von Anführern, die sich an die Spitze geputscht haben. Joachim Löw hatte den Kleinen gewähren lassen, das Machtvakuum zu schließen. „Hierarchien“, sagte Philipp Lahm am Dienstag, mit der Erfahrung von vier Jahren Amtszeit, „bilden sich immer auf dem Platz und laufen über die Leistung.“ Was heißt: Nur wer Leistung bringt, darf mitreden. Weil es in Deutschland keinen zweiten Nationalspieler gibt, der seit einem Jahrzehnt beständig Weltklasse repräsentiert, hat Lahms Wort immer Gewicht.
Andererseits macht sich selbst Lahm zu klein, wenn er seine Rolle allein auf sein Spiel zurückführt. Auch Bastian Schweinsteiger erfüllte 2010 das sportliche Anforderungsprofil für die Ballack-Nachfolge. Auf dem Spielfeld ein echter Leitwolf, fehlen ihm jenseits davon allerdings die emotionale Balance und das sprachliche Geschick. Lahm hat von beidem reichlich.
Der 30-Jährige wäre an jedem Gymnasium Schülersprecher. Also hat er auch am Dienstag in Santo André wieder gesprochen. Keinen Spieler setzt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den Journalisten lieber vor als Lahm. Dass es vielleicht sein letztes Turnier ist, spricht er gelassen aus. Nicht, dass er sich in eine solche Sprecher-Rolle drängt. Ist sie aber frei, greift er gerne zu.
In der Nationalelf ist er ein kleiner Capitano am Ende einer flachen Hierarchie. So war das schon vor vier Jahren bei der WM in Südafrika, so ist das auch jetzt in Brasilien.
Was sich für ihn geändert hat? Er sei kein Anfänger mehr, schöpfe jetzt aus großer Erfahrung. Sonst? Nichts weiter. Die deutsche Mannschaft spielt ohne breitbeinig auftretenden Leitwolf, weshalb nicht immer klar ist, wer wann vorangeht. Das macht sie für den Gegner schwerer ausrechenbar. Kommt der Wind kräftig von vorne, gibt Schweinsteiger den besten Boss ab, was ihm vor vier Jahren das Prädikat des „aggressive leader“ eingetragen hat. Ob der zuletzt angeschlagene 29-Jährige in Brasilien allerdings diese Rolle spielen kann, weiß niemand.
Ähnlich liegt der Fall bei den anderen Alphatieren im Team, Sami Khedira und Miroslav Klose. Ob sie die Führungsrolle tatsächlich auch auf dem Platz spielen dürfen, ist offen, weshalb am Ende doch wieder alles auf den Kapitän zuläuft. Dass Lahm beim FC Bayern ins Mittelfeld vorgerückt ist, hat seine Rolle erweitert. Nach Lage der Dinge wird er auch in Brasilien im Zentrum des Spiels stehen.
Hinweise dafür, so Lahm, habe der Abschlusstest gegen Armenien geliefert. Hier agierte der Kapitän im Mittelfeld. „Wenn man im letzten Spiel vor einer WM auf einer bestimmten Position spielt, geht man davon aus, dass man auf dieser Position auch eingesetzt wird.“ Lahm will nicht mehr als Außenverteidiger am Rande des Spiels stehen. Er will die Mitte, Einfluss haben, gestalten und vorneweg gehen. Ein Spielführer — wenn es sein muss auch ein Anführer.