DFB-Kapitän Neuer nimmt Mitspieler vor Schweden-Spiel in die Pflicht

Watutinki (dpa) - Die Nerven sind angespannt, der Appell des Kapitäns ist deutlich: Trotz einer schonungslosen Krisenaufarbeitung noch in Watutinki nahm der angeschlagene Weltmeister Deutschland noch viele Fragezeichen mit in den nächsten WM-Spielort Sotschi.

Foto: dpa

Vor dem zweieinhalbstündigen Flug von Moskau an die russische Schwarzmeer-Küste hatte sich die Mannschaft lange über die derzeitigen sportlichen sowie atmosphärischen Defizite ausgetauscht und dabei „ehrlich die Meinung gesagt“, berichtete Manuel Neuer. Der Anführer der Weltmeister-Generation traf wegen der Mammutsitzung fast eine Stunde verspätet bei der DFB-Pressekonferenz ein.

Neuer und seine Kollegen sind sich vier Jahre nach dem triumphalen WM-Gewinn in Brasilien der Gefahr bewusst, als erstes deutsches Team überhaupt schon nach einer WM-Vorrunde nach Hause fahren zu müssen. „Wir haben ab jetzt nur noch Finals. Jetzt muss von uns Spielern was kommen. Wir müssen das zeigen, was uns in der Vergangenheit so stark gemacht hat“, sagte der Kapitän. Er fasste die wichtigste Botschaft an die besorgte Fußball-Gemeinde in der Heimat mit dem Satz zusammen: „Wir sind unsere schärfsten Kritiker.“

Die Muster der Fehlleistungen sind seit der souveränen WM-Qualifikation mit zehn Siegen in zehn Spielen immer gleich: Das Offensivkonzept von Bundestrainer Joachim Löw über extrem nach vorn orientierte Außenverteidiger geht auf Kosten der defensiven Stabilität. Die Weltmeister Toni Kroos und Sami Khedira konnten beim 0:1-Schock gegen Mexiko in der Mittelfeld-Schaltzentrale nicht die nötige Balance herstellen.

Dazu schaffte es die mit viel Potenzial ausgestattete Abteilung Attacke nicht, klare Tormöglichkeiten zu kreieren. „Es liegt nicht daran, dass wir nicht wollen, sondern dass wir die falschen Dinge zur falschen Zeit machen und die Gegner sich extrem aufs Konterspiel verlassen“, bemerkte Thomas Müller. Der Mister WM, der 2010 und 2014 jeweils fünf Tore erzielte, ist derzeit ebenfalls neben der Spur.

„Es ist am Ende ein Gemisch“, bemerkte Manager Oliver Bierhoff. Und das macht die Situation vor dem Duell gegen die kantigen Schweden so besonders brisant. Die Skandinavier sind nach ihrem Auftaktsieg gegen Südkorea (1:0) in einer komfortablen Situation. „Die Deutschen können besser spielen, aber es ist alles möglich“, sagte der Leipziger Bundesliga-Legionär Emil Forsberg. Selbstbewusstsein hat sein Team genug: Immerhin haben die Schweden in der WM-Ausscheidung erst die Niederlande eliminiert und dann im Playoff auch noch das stolze Italien in eine nationale Depression gestürzt.

Löw forderte nach dem Fehlstart sein Personal dazu auf, die ungewohnte Situation anzunehmen: „Es gibt Widerstände in einem Turnier, das weiß man.“ Der Druck „ist auf jeden Fall da“, sagte Marco Reus. Auf den WM-Neuling, der gegen Schweden in der Startelf erwartet wird, ruhen im umgebauten Olympiastadion von Sotschi besondere Hoffnungen. Ob Löw am Samstag weitere Wechsel vornehmen und auch schwächelnde Weltmeister auf die Bank setzen wird, ist offen.

Für Neuer ist ohnehin ein anderer Punkt wichtiger. „Für mich geht es eher darum: Habe ich die Bereitschaft, das Turnier hundertprozentig anzugehen?“, sagte Neuer: „Diese Bereitschaft war beim ersten Gruppenspiel nicht so 100 Prozent da, wie man es aus den anderen Turnieren kannte.“ Die Diskussionen laufen intensiv, berichtete auch Bierhoff in der ARD, warnte aber zugleich vor Hektik: „Die Kunst liegt jetzt auch darin, Ruhe zu bewahren.“ Ruhe heiße aber nicht „Zurücklehnen und Gelassenheit und zu glauben, dass wir als Weltmeister eben das zweite Spiel gewinnen“, ergänzte der Manager.

Den Hebel jetzt einfach umzulegen, sei nicht so einfach, unterstrich Neuer: „Wir müssen daran arbeiten und uns auch außerhalb des Platzes damit auseinandersetzen und uns auch Sachen ehrlich ins Gesicht sagen.“ Der Redebedarf im DFB-Vorzeigeteam sei derzeit so groß wie noch nie zuvor in seiner Zeit als Nationalspieler, verriet der 32-Jährige: „Wir nehmen kein Blatt vor den Mund.“

Offenbar gibt es unterschiedliche Meinungen über die Interpretation von Löws WM-Spielkonzept. „Wichtig ist, das wir alle an einem Strang ziehen und nach einem Muster spielen und zu 100 Prozent die Vorgaben umsetzen“, forderte Neuer. Entschlossen verneinte er die Frage nach einer Spaltung im Team zwischen den erfahrenen Weltmeistern und den jüngeren, aufstrebenden Confed-Cup-Siegern. „Die Zweiteilung gibt es nicht. Wir sind eine Mannschaft, und es gibt auch keine Spaltung.“

Die internen Debatten empfindet Neuer als „sehr befreiendes Gefühl“, sie können aber nicht endlos fortgesetzt werden. Chef Löw muss in den drei Vorbereitungstagen in Sotschi ganz schnell praktische Lösungen finden und im Training probieren. „Jetzt müssen wir es angehen. Wir haben es im ersten Spiel verbockt, aber haben es selbst noch in der Hand“, sagte Bierhoff. Die Qualität sei auf jeden Fall da.

Vielleicht hilft auch ein wenig der Umzug vom abgelegenen Watutinki in den Urlaubs- und Vergnügungsort Sotschi, um neben der nötigen Spannung auch ein Stück WM-Lockerheit zu finden. „Ich freue mich auf den Tapetenwechsel“, sagte Neuer: „Wir müssen die ganzen Finals positiv angehen. Die Mannschaft glaubt daran, dass wir uns für die K.o.-Runde qualifizieren.“ Hundertprozentig überzeugend klang seine Botschaft (noch) nicht.