Kolumne Politik und Sport? So viel Sport wie möglich ...
Fangen wir an mit — Politik. Russland ist nicht Putin, jedenfalls nicht nur. Geben wir den Menschen in diesem schönen Land eine echte Chance, sich als freundliche und faire Gastgeber zu zeigen anstatt ihnen mit Vorurteilen und Belehrungen zu begegnen.
Und lasst uns bitte nicht zuviel verlangen von unseren Fußballern. Herr Kimmich muss nicht vor jedem Eckball dem Arm heben und ein Statement verlesen zu Menschenrechten, zur Ost-Ukraine oder zu sonstwas — das zu verlangen, wäre heuchlerisch und eine Überforderung des Sports wie seiner Protagonisten.
Wer solche Proteste einfordert, hätte besser versuchen sollen, die WM in Russland zu verhindern. Oder die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Oder die WM 2022 in Katar. Oder die Sommerspiele in Peking. Oder die Winterspiele in Peking
Der Sport ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, vor allem dann nicht, wenn der Politik keine Mittel einfallen oder sie der Wirtschaft nicht gefallen. Oder beides.
Damit wir uns nicht missverstehen: Von der Formel „Sport hat mit Politik nichts zu tun“ halte ich nichts. Eher darf man sagen: Soviel Sport wie möglich und so viel Politik wie nötig.
Wenn uns eine WM die Möglichkeit gibt, einen tiefen Blick auf ein Land zu werfen, dann sollten wir nicht blind sein für das, was wir sehen und was um uns herum geschieht. Dann dürfen und sollen wir sagen, wenn uns Dinge nicht gefallen. Das ist gelebte Meinungsfreiheit, und auf die haben auch Nationalspieler im WM-Dienst ein Recht. Aber das ist ihre persönliche Sache.
Gilt das auch für Mesut Özil und Ilkay Gündogan? Nein. Ein solches Foto mit Herrn Erdogan gibt es nicht zum Nulltarif. Das hätten die beiden wissen können, nein: müssen. Und wenn nicht, hätte es einer aus ihrem Schwarm von Beratern wissen und ihnen sagen müssen.
Ein privates Treffen wäre ihre Privatsache gewesen mit privaten Konsequenzen. Denn eines bliebt: Sie sind deutsche Nationalspieler — auch mit Vorbildfunktion! Und Erdogan ist der, der er ist. Aber der Termin war Mittel zum Zweck im Wahlkampf und wurde auch so verbreitet. Und das hat nur funktioniert, weil Özil und Gündogan in ihrer Rolle als deutsche Nationalspieler aufgetreten sind.
Die Folgen für das Mannschaftsklima sind gravierend, der Fall ist zu einer Belastung für alle geworden und stört die WM-Vorbereitung. Das liegt auch am jämmerlichen Krisenmanagement mit dem Tiefpunkt des inszenierten Treffens im Schloss Bellevue, in das deutsche Fußballer sonst nur kommen, um sich das Silberne Lorbeerblatt abzuholen.
Die Teamleitung hätte Klartext sprechen müssen anstatt mit halbgaren Erklärungen herumzueiern. Das geht nicht, man kann Zahnpasta nicht in die Tube zurückdrücken. Die Menschen haben gemerkt, wie da taktiert worden ist. Sie fühlten sich auf den Arm genommen, und ich glaube, dass es vor allem deshalb in Leverkusen die Pfiffe gab. Kann der Fall sogar die ausgerufene Mission Titelverteidigung gefährden? Hoffentlich nicht, aber das gilt genauso für andere — im Vergleich — Problemchen in der deutschen Mannschaft.
So darf man fragen, wie die Bayern das Gefühl abschütteln, eine verkorkste Saison hinter sich zu haben. Und ob die Dortmunder mehr Selbstbewusstsein haben als in der Bundesliga. Ob Boateng wieder fit wird und ob der Fuß von Neuer wirklich hält. Und man darf sich durchaus nachdenklich am Kopf kratzen, wenn man die beiden letzten Testspiele gesehen hat. Österreich einen Sieg über die Piefkes im Geschenkpapier zu überlassen, das muss nun wirklich nicht sein, aber okay — Testspiele halt. Der Plan, sich zur Generalprobe mit den Saudis einen Gegner einzuladen, gegen den man sich mit einer Handvoll Törchen in WM-Laune bringt, ist dann auch daneben gegangen. Anstatt fröhlich pfeifend aufzubrechen, wurde man von einer pfeifenden Kulisse außer Landes geleitet.
Aber das alles wird sich sportlich regeln lassen, dafür steht schon der Bundestrainer, der jetzt als Weltmeister noch unangreifbarer geworden ist. Nein, die entscheidende Frage ist: Sind diese jungen Menschen, die in ihrer Sportart das Höchste erreicht haben, was man erreichen kann, wirklich wieder hungrig genug, um das noch mal zu schaffen?
Darauf kommt es an: Nicht auf die Aufstellung, sondern auf die Einstellung. Das ist die Herausforderung für einen Titelverteidiger, und die ist sehr groß. Deshalb haben es auch erst zwei Mannschaften geschafft — die letzte kam aus Brasilien, und das war 1962. Das war in Chile und die zweite WM, an die ich mich erinnern kann. Seitdem habe ich jedes Turnier verfolgt und ich gedenke nicht, damit aufzuhören. Die Faszination für das große Spiel ist intakt, aber ungetrübt kann ich sie schon lange nicht mehr genießen. Ich würde gern Ronaldo und Messi, die beiden besten Fußballer unseres Planeten, und all die anderen Ausnahmespieler auf der Höhe ihrer Kunst erleben. Und nicht mit ansehen müssen, wie sie sich beim wichtigsten Turnier nach einer langen Saison ausgelaugt über den Platz schleppen.
Und dann ist da diese Vorrunde, die nur da zu da ist, die Teams nach Hause zu schicken, von denen man vorher gewusst hat, dass sie besser zu Hause geblieben wären. Nichts gegen die Kleinen — aber das ist eine WM, das Turnier der Weltbesten. Ich will ehrlich sein: Ein bisschen fürchte ich mich deshalb vor der Gruppenphase. Das sind gut zwei Wochen Vorgeplänkel, dann geht die WM zum zweiten Mal los — aber dann richtig.