„Schande“ und „Folter“: Brasilien am Boden zerstört
Belo Horizonte (dpa) - Brasiliens Seelenqualen nahmen auch am Tag danach einfach kein Ende - und Trainer Luiz Felipe Scolari dürfte am Samstag sein Abschiedsspiel haben.
Schonungslose Schlagzeilen brüllten den entzauberten Idolen der einstmals ruhmreichen Seleção förmlich entgegen, wie groß Frust und Enttäuschung über das 1:7-Debakel im WM-Halbfinale gegen Deutschland in der fußballverrückten Nation sind. „Fahr zur Hölle, Felipão“, kommentierte das Blatt „Odia“ in großen Lettern aus Wut über die Taktik von Nationaltrainer Scolari. Für die Sportzeitung „Lance!“ war es „die größte Schande in der Geschichte. Eine unvergleichliche Folter für diejenigen, die die Seleção lieben.“
Ganz Brasilien ringt nach dem „Mineiraço“ um Fassung. Daran änderte auch die Ankündigung des verletzten Superstars Neymar nichts, am Samstag im Spiel um Platz drei im Stadion sein zu wollen. Die Blamage hat tiefe Spuren hinterlassen. Weinend und untröstlich schlichen die Spieler nach dem Desaster von Belo Horizonte in die Kabine. „Es war eine fürchterliche, eine katastrophale Niederlage, die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Aber wir müssen lernen, damit umzugehen“, sagte Scolari nach dem fast schon traumatischen Erlebnis.
Der 65-Jährige wird nach Angaben des künftigen Verbands-Vizepräsidenten Delfim Peixoto „nie mehr“ Brasiliens Nationaltrainer werden. „Alles war schlecht. Ich möchte nicht darüber sprechen, um nichts Dummes zu sagen, aber eines kann ich versichern: Nie wieder wird Felipao mit einer brasilianischen Auswahl zusammen sein. Er ist eine Last, eine Schande“, sagte der Funktionär am Mittwoch dem TV-Sender ESPN Brasil.
Peixoto gehört zur Gefolgschaft von Marco Polo del Nero, der im kommenden April als Präsident des brasilianischen Fußball-Verbands CBF die Nachfolge von José Maria Marin antritt. Peixoto forderte, Scolari solle in den Ruhestand gehen. Der Vertrag des Cheftrainers läuft nach der WM aus. Scolari selbst wollte sich nicht über seine Zukunft äußern.
Noch diskutieren die Experten, ob das „Maracanaço“ von 1950, als Brasilien vor 200 000 Zuschauern im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro in der letzten Partie mit einem 1:2 gegen Uruguay den Titel verspielte, schlimmer war als jener Auftritt am Dienstagabend im Estádio Mineirão.
Die Protagonisten waren jedenfalls fassungslos. „Normalerweise kann ich nach einer Niederlage nicht schlafen. Aber nach diesem Ergebnis, bei einer Weltmeisterschaft, die wir alle gewinnen wollten, kann ich nicht einmal weinen. Der Schmerz ist so stark, so groß, dass ich nicht die Kraft habe, zu weinen“, erklärte der gelbgesperrte Kapitän Thiago Silva.
Als der WM-Gastgeber nach einer knappen halben Stunde mit 0:5 hinten lag, heulten viele Zuschauern in den gelben Hemden. Nach dem frühen 0:1 und dann vier Toren in sieben Minuten - „da hatten wir die Kontrolle verloren“, meinte Scolari später. Weitere Erklärungsversuche schenkte er sich. Welche Rolle es gespielt habe, dass Superstar Neymar fehlte? „Felipão“ schüttelte den Kopf. „Es gibt nicht irgendeinen Grund zu glauben, dass mit Neymar alles anders gewesen wäre. Der ist Stürmer, der ist nicht hinten.“
Für Dante geriet sein WM-Debüt zu einem Alptraum. „Das einzige, was wir tun können, ist um Verzeihung zu bitten“, meinte der Innenverteidiger vom FC Bayern. Am Ende hatten selbst die Deutschen Mitleid. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller trösteten ihren Clubkollegen Dante. Miroslav Klose nahm Scolari in den Arm. „Ich habe zwar noch nie 7:1 verloren. Aber kann mir ungefähr vorstellen, wie man sich fühlt, vor allem vor sehr vielen brasilianischen Fans. Die Jungs tun einem da schon leid“, meinte Müller.
Für Joachim Löw war Brasilien „unter dem Druck ein bisschen eingebrochen. Ich kann es ein bisschen nachempfinden, wie es Scolari geht, der brasilianischen Nation, der brasilianischen Seele. Aber nach diesen schnellen Toren hat man gemerkt, dass die ganze brasilianische Mannschaft unter Schock stand“, meinte der Bundestrainer. Das „Jogo bonito“, das „schöne Spiel“, hatte Brasilien bei diesem Turnier kaum gezeigt - im Halbfinale spielte die DFB-Auswahl „Jogi bonito“ mit den Brasilianern.
Auch Staatspräsidentin Dilma Rousseff zeigte sich geschockt. „Wie alle Brasilianer bin ich sehr, sehr traurig über die Niederlage. Es tut mir immens leid für uns alle, für die Fans und unsere Spieler“, twitterte sie nach dem Spiel, betonte jedoch auch: „Aber wir lassen uns nicht brechen. Brasilien, schüttel' den Staub ab und steh wieder auf.“
Scolari saß nach dem Debakel mit rot geränderten Augen in der Pressekonferenz. „Dem brasilianischen Volk möchte ich sagen: Bitte entschuldigt diese Niederlage!“, meinte der Mann mit dem Schnauzbart, dem ein zweiter WM-Triumph mit der Seleção nach 2002 nicht vergönnt war. „Das ist die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Das Ergebnis fällt auf mich zurück, ich bin der Verantwortliche.“
Ein Rücktritt war aber - zumindest vor dem Spiel um Platz drei - kein Thema. 50 Minuten lang verteidigten sich Scolari und der Technische Direktor Carlos Alberto Parreira bei einer Pressekonferenz am Mittwoch im Trainingscamp Granja Comary. Als möglichen Nachfolger brachte die Zeitung „Folha de São Paulo“ Adenor Bacci - auch genannt Tite und zuletzt bei Corinthians São Paulo - ins Gespräch. Der 53-Jährige war mit dem Verein 2011 brasilianischer Meister, Südamerika-Meister und Club-Weltmeister. Ein weiterer Kandidat soll demnach Alexandre Gallo sein, der bereits im Trainerstab der Seleção mitarbeitet.
Der Traum vom „Hexacampeão“, vom sechsten WM-Titel, war mit einem Riesenknall geplatzt. „Ich habe immer gesagt, dass Fußball eine Kiste voller Überraschungen ist. Mit diesem Ergebnis hatte keiner gerechnet“, twitterte Brasiliens Fußball-Idol Pelé und prophezeite für 2018 einfach mal so: „Wir werden den Hexa in Russland holen.“