WM-Formel: Ballbesitz am Zuckerhut kein Allheilmittel
Rio de Janeiro (dpa) - Pep Guardiola dürfte das WM-Stadion in Porto Alegre beruhigt verlassen haben - zumindest bei einem Blick auf die Spiel-Statistik. Lionel Messis Argentinier hatten beim 3:2 gegen Nigeria deutlich mehr Ballbesitz, ganz im Sinne von Guardiolas Fußball-Philosophie.
Doch das ist bei der WM nicht die Regel, im Gegenteil: Die erfolgreichen Teams in Brasilien halten sich nicht an das Mantra des Münchner Chefcoaches vom Primat mit Ball am Fuß.
Bis kurz vor Ende der Gruppenphase konnte in 24 von 44 Spielen die Mannschaft mit mehr Ballbesitz nicht gewinnen, 17 Mal ging sie sogar als Verlierer vom Platz. Die Erfolgsformel in Brasilien ist eine andere: Tempo und Teamgeist bringen Tore und Erfolg. Besonders die Mannschaften aus Südamerika beweisen mit Kampfgeist und Geschlossenheit, wie der Systemfußball á la Tiki Taka in Brasilien zum Auslaufmodell wird. Fünf der sechs Teams des Gastgeberkontinents zogen ins Achtelfinale ein.
Kolumbien ist dabei der Kronzeuge des Taktikwechsels. In keinem Spiel hatten die Caféteros mehr Spielanteile - und gewannen immer - 3:0 gegen Griechenland (46:54 Prozent Ballbesitz), 2:1 gegen die Elfenbeinküste (45:55) und 4:1 gegen Japan (45:55). Auch die Niederlande blieb ungeschlagen und hatte sowohl beim 2:0 gegen Chile (36:46 Prozent) weniger Ballanteil wie auch beim 5:1 gegen Spanien (43:57 Prozent), dem tragischen Verlierer und entthronten Titelverteidiger. Und auch die Azzurri jammerten: „Italien spielt selbstmörderisches Tiki Taka“, schrieb die Agentur Ansa.
Erfolg haben im Land des Rekordweltmeisters Teams, die fit sind - und die in der entscheidenden Situation kurz vor Schluss nachlegen können. Belgien gewann seine ersten beiden Spiele durch späte Jokertore. „Ich fühle mich fit, ich kann einen Beitrag leisten, wenn es drauf ankommt“, sagte deren Jungstar Eden Hazard nach dem 1:0 gegen Russland.
Schon nach den zweiten Gruppenspielen war die Quote von 15 Jokertoren der gesamten WM 2010 überboten. Auch ein Zeichen für den unbändigen Offensivgeist, der belegt wird durch den Fakt, dass erstmals seit 1962 und erstmals seit der Aufstockung auf 32 Teilnehmer alle Teams mindestens einmal trafen und keiner ohne Gegentor blieb.
Auf seiner WM-Homepage lässt der Weltverband gesponsert von einem Motorenölhersteller praktisch alle denkbaren Statistiken notieren. Für Verwunderung sorgt dabei die Quote von 55,2 Minuten, die der Ball durchschnittlich im Spiel ist. Vor vier Jahren in Südafrika waren es noch 69,8 Minuten - ein fast unerklärlicher Rückgang, über den die Experten rätseln. Ein Gedankengang: Durch das deutlich schnellere Spiel landet der Ball häufiger im Aus. Zumal eine genaue Passquote ohnehin nicht zum Erfolg führt.
Von den ersten acht Teams im Passranking (Spitzenreiter Spanien 2071 vor Argentinien 1882 und Italien 1859) schieden fünf in der Vorrunde aus. Deutschland (1301) liegt in dieser Wertung auf Platz 18 im WM-Mittelmaß. England und Italien produzierten mit 1223 Pässen bei ihrem Spiel im heißen Manaus einen WM-Rekord - und sind nach der Vorrunde beide zu Hause.
Ob die Fans diese Zahlenspiele interessieren, ist eine andere Frage. Maßgeblich bleibt, wer die Tore schießt. Ein Schnitt von 2,9 Treffern pro Spiel bedeutet die höchste Quote seit 1970 und sorgt für eine WM der Fußballfreude - sicherlich auch für Pep Guardiola.