Fragen und Antworten Handball-WM: Ein schlechtes Spiel zur falschen Zeit
Paris. Dagur Sigurdsson versagte vor der Presse die Stimme. Er hustete, trank einen Schluck Wasser. Dann noch einen. Es half nichts.
Schließlich stand er einfach auf. Und ging. Das war’s. Seine so erfolgreiche Zeit als Handball-Bundestrainer endet mit Platz neun — eine großen Enttäuschung. Bei der WM in Frankreich war am Sonntag im Achtelfinale Schluss. Völlig überraschend und völlig unnötig.
Die 20:21 (10:9)-Niederlage gegen Katar hatte sich der Europameister selbst zuzuschreiben. Dass seltsame Pfiffe der Schiedsrichter in der Schlussphase hinzukamen, „ist Teil der Wahrheit“, wie es DHB-Vizepräsident Bob Hanning erklärte.
Doch auch der starke Mann im deutschen Handball machte nicht den Fehler, die Schuld ausschließlich bei anderen zu suchen. „Wir müssen immer zu 100 Prozent fokussiert sein. Das waren wir dieses Mal nicht.“ Nach der ersten Niederlage im Turnier, die gleichzeitig das bittere Aus bedeutete, bleiben viele Fragen.
Hat die deutsche Mannschaft Katar unterschätzt?
Einige Spieler deuteten das nach dem Abpfiff an. „Vielleicht haben wir es zu leicht genommen“, sagte Andreas Wolff. Manche schienen sich ob der günstigen Ausgangslage auch schon gedanklich zu sehr mit einem möglichen Halbfinale gegen Frankreich beschäftigt haben. Oder sogar noch mehr: eine Party in Paris. „Vielleicht waren wir mit dem Kopf schon zu weit. Ich auch“, gestand Sigurdsson.
War Katar so gut oder Deutschland so schlecht?
Der Asienmeister hat ohne Zweifel sein bestes Spiel bei diesem Turnier gemacht. Er hatte mit Danijel Saric auch einen überragenden Torwart, der beste Chancen der Deutschen reihenweise zu Nichte machte. Am Ende war auch Rafael Capote nicht mehr zu stoppen und erzielte die letzten vier Treffer der Kataris, die schon mit 13:17 (46.) zurücklagen, aber dennoch die Wende schafften.
Doch bei allem Respekt: In Normalform hätte die DHB-Auswahl den in seinen Mitteln limitierten Gegner bezwingen müssen. Der Vize-Weltmeister von 2015 schaffte es mit seiner Tempoverschleppung, seiner aggressiven und immer mal wieder auf einzelnen Positionen herausrückenden Abwehr den Favoriten aus dem Rhythmus zu bringen. Deutschland leistete sich 15 technische Fehler. Ein Horrorwert. „Wir hatten am Ende Angst“, bemängelte Sigurdsson.
Welche Schuld trägt Dagur Sigurdsson an der Niederlage?
Es war immer die Stärke des Isländers, Impulse von Außen zu setzen. Am Sonntag blieb er rätselhaft wirkungslos. Zwei Auszeiten hätte der 43-Jährige noch nehmen können. Er nutzte dieses Mittel nicht. Auch nicht vor den beiden letzten deutschen Angriffen, als es jeweils 20:21 stand. Sigurdsson begründete das damit, dass er auf Grund der Spezialistenwechsel mit seinen Offensivstrategen am Spielfeldrand ohnehin sprechen konnte.
Er wollte nicht, dass sich der Gegner speziell auf die entscheidende Abwehrsituationen einstellen konnte. Aber seiner von Minute zu Minute immer hektischer werdenden Mannschaft hätte es gut getan, sich noch einmal zu sammeln. Die eine entscheidende Aktion, die in die Verlängerung geführt hätte, hätte man besprechen können. So endeten die beiden letzten Angriffe mit einem Fehlpass von Holger Glandorf und einem überhasteten Schlagwurf von Steffen Fäth in den katarischen Block. „Ich habe auch Fehler gemacht“, gab der Erfolgscoach zu.
Haben die Schiedsrichter Einfluss genommen?
Wenn ein Spiel so eng ist, dann kommt es auf jeden Pfiff an. Ohne Zweifel traf das litauische Gespann Gatelis/Mazeika gerade in der Schlussphase seltsame Entscheidungen gegen das deutsche Team. Beim Stand von 20:20 hätte es anstatt Stürmerfoul gegen Paul Drux einen Siebenmeter für den Berliner geben müssen. Und dazu zwei Minuten für Katars Abwehrchef Hassan Mabrouk nach dessen rüder Aktion gegen Holger Glandorf Sekunden zuvor — es wäre seine dritte gewesen. Beides war für die Schiedsrichter klar zu erkennen. Deswegen bleibt ein fader Beigeschmack. „Das Siebenmeterverhältnis und die letzten Aktionen waren nicht regelkonform, aber damit müssen wir jetzt auch mal leben“, sagte Bob Hanning.
Wurde die deutsche Mannschaft zu sehr hochgejubelt?
Der Sieg gegen Kroatien hat gezeigt, zu was diese Mannschaft fähig ist. Sie war definitiv ein Medaillenkandidat. Am Sonntag leisteten sich die Deutschen ein schlechtes Spiel. So etwas kommt im Turnierverlauf immer mal vor. Das war vor einem Jahr bei der EM in Polen (Auftakt gegen Spanien, Halbfinale gegen Norwegen) und auch bei Olympia in Rio (Vorrundenniederlage gegen Brasilien) nicht anders, bloß da konnten die Bad Boys das entweder noch gerade so korrigieren oder aber es hatte keine Folgewirkung. Vielleicht wäre ein Schuss vor den Bug in der Vorrunde hilfreicher gewesen. So war sich das Team eventuell zu sicher. Diese schmerzliche Erfahrung machten auch andere Favoriten. Dänemark ging ebenso unbeschadet durch die Gruppenphase und musste am Sonntag nach dem 25:27 gegen Ungarn die Koffer packen.
Wie geht es nun weiter?
Das deutsche Team ist am Montag individuell abgereist. Am 3. Februar trifft es sich zum All-Star-Game der Bundesliga in Leipzig wieder, am 19. März steigt der Tag des Handballs in Hamburg mit einem Länderspiel gegen Schweden. Dazu muss der Europameister in dieser Saison noch vier Qualifikationspartien für die EM 2018 in Kroatien bestreiten: Anfang Mai den Doppelpack gegen Slowenien, im Juni dann zunächst in Portugal und zum Abschluss gegen die Schweiz. Noch gibt es für all die Partien keinen Trainer.
Dagur Sigurdsson ist mit dem Ende der WM seinen Job los. Ab Sommer kümmert er sich um die japanische Nationalmannschaft. Gut möglich, dass der DHB bis zum 30. Juni eine Interimslösung benennen muss. Der Wunschkandidat für die Nachfolge Sigurdssons ist nach wie vor Leipzigs Coach Christian Prokop. In den vergangenen Tagen sickerte durch, dass die Verhandlungen zwischen dem Verband und dem Club, bei dem Prokop noch bis 2021 unter Vertrag steht, vor einem erfolgreichen Abschluss stehen sollen.