Digel: „Alle haben Verantwortung“
Frankfurt/Main (dpa) - Von 1995 bis 2015 saß der deutsche Sportfunktionär und -wissenschaftler Helmut Digel in der Regierung des Leichtathletik-Weltverbandes.
Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht er über den gigantischen Skandal um den früheren IAAF-Präsidenten Lamine Diack und seine eigene Rolle dabei.
Herr Digel, sie gehörten acht Jahre lang dem Council der IAAF an. Welche Verantwortung tragen Sie bzw. was wussten Sie in diesem großen Doping- und Korruptionsskandal?
Helmut Digel: Ich selbst kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich mich intern im IAAF-Council bemüht habe, dass ich mich aber nicht sehr erfolgreich bemüht habe. Ich war in den letzten acht Jahren nicht mehr Vizepräsident, weil Diack mich verhindern wollte. Aber eine Verantwortung habe ich dennoch. Die Verantwortung für diese Krise haben alle Mitglieder des Councils. Aber der eigentliche Skandal ist trotzdem bezogen auf den Präsidenten zu sehen. Darum geht es: Diese Macht der Präsidenten muss in Zukunft entschieden beschnitten werden.
In dem WADA-Report steht eindeutig: „Es wird mehr und mehr klar, dass deutlich mehr IAAF-Funktionäre über diese Probleme wussten als bisher eingestanden. Es ist nicht glaubhaft, dass gewählte Offizielle nichts über die Verhältnisse in Russland gewusst haben.“
Digel: Ich denke, so eine Behauptung kann man in den Raum stellen, aber dann müsste man es auch belegen können. Ich für meine Person weise das in aller Entschiedenheit zurück. Ich habe Herrn Pound (Leiter der WADA-Untersuchungskommission) auch nicht vorgeworfen, dass er über alle Vorgänge im IOC Bescheid wusste, obwohl er Mitglied in der Exekutive war. Klar ist: Seine Kritik an der IAAF ist berechtigt. Das gilt auch für den Vorwurf, dass man den Nepotismus geduldet hat, der in der Ära Diack stattgefunden hat und auch davor schon bei seinem Vorgänger Primo Nebiolo. Aber man muss auch die Strukturen bei der IAAF etwas genauer beleuchten und fragen: Wer sitzt denn in diesem Council? Wer hat bei 214 Mitgliedsverbänden die Mehrheit und worauf war die Macht des Herrn Diack begründet? Er hat eben nunmal die Rückendeckung fast aller Mitglieder gehabt, er wurde immer wieder mit großer Stimmenmehrheit gewählt. Es gab, wenn überhaupt, nur eine kleine europäische Opposition und die war so gut wie nicht organisiert. Man kann den europäischen Council-Mitgliedern vorwerfen, dass sie in dieser Frage nicht aktiv waren. Sie hätten meines Erachtens eine Wiederwahl Diacks verhindern müssen.
Sie waren innerhalb des IAAF-Councils für den Bereich Marketing zuständig. Wie eng haben Sie dort mit Papa Massata Diack zusammengearbeitet, der als Sohn von Lamine Diack und ehemaliger Marketing-Berater der IAAF einer der Drahtzieher in dem Skandal ist?
Digel: Ich habe die ganze Zeit mit ihm zusammengearbeitet. Er war ja Marketing-Consultant, er hat auch einige Verträge herbeigeschafft - wie auch immer. Er hatte auf dem Gebiet durchaus eine Professionalität aufzuweisen. Entscheidend ist: Ich hatte bei vielen nicht geglaubt, was da offenbar möglich war. Gabriel Dollé zum Beispiel (früherer Chef der Anti-Doping-Abteilung der IAAF) war für mich zunächst DER Anti-Doping-Kämpfer innerhalb der Leichtathletik. Der war eigentlich über jeden Zweifel erhaben. Ich vermute, dass Dr. Dollé durch eine gewisse Schwäche in eine Abhängigkeit geraten ist. Das würde einiges erklären. Bei Dollé hätte ich es nie geglaubt.
Wie bewerten Sie die Rolle des neuen IAAF-Präsidenten Sebastian Coe? Viele halten ihn für belastet, weil er jahrelang der Stellvertreter von Diack war. WADA-Ermittler Pound aber sagt auf einmal: „Ich kann mir keinen Besseren vorstellen als Lord Coe.“
Digel: Ich hoffe, dass Sebastian Coe die richtigen Lehren zieht. Denn er ist im Moment auch in der Gefahr, in gleicher Weise eine Machtposition zu erlangen, wie sie Diack besessen hat. Genau das muss Coe verhindern. Ich würde ihm nicht unterstellen, dass er in seiner Position als Vizepräsident über die Korruptionsfälle informiert wurde und dass er Wissen davon hatte. Das hat sich wirklich in einer geheimen Szene ereignet, in einem engen Zirkel um Lamine Diack.
ZUR PERSON: Helmut Digel ist einer der renommiertesten Sportwissenschaftler in Deutschland. Der 71-Jährige aus Tübingen gehörte von 2007 bis August 2015 dem Council des Leichtathletik- Weltverbandes IAAF an. Von 1993 bis 2001 war der frühere Handballer Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, von 1993 bis 2002 auch NOK-Vizepräsident. Als Pensionär lebt er jetzt am Chiemsee.