Funktionär Digel warnt: „Nur die Spitze des Eisbergs“
Berlin (dpa) - Usain Bolt signierte in seinem Restaurant „Tracks & Records“ in Kingston Weihnachtsgeschenke für die Fans. Der Dopingskandal in Europa ist für den Superstar aus Jamaika wohl so weit weg wie für E.T. der Heimatplanet.
Doch auf dem Kern-Kontinent der Leichtathletik schlagen die Ereignisse seit dem 3. Dezember hohe Wellen. Ausgelöst wurde das Erdbeben durch die ARD-Doku „Geheimsache Doping“, das Epizentrum liegt in Russland - aber die Erschütterungen machen vor Grenzen nicht halt. „Das ist ein richtiger Sturm, der die Leichtathletik in die Knie zwingen könnte“, schrieb der „Guardian“.
„Der Dopingskandal ist in seiner Reichweite noch immer nicht definiert. Wir sehen ja nur die Spitze des Eisbergs und wissen noch nicht einmal, wie groß dieser Eisberg ist. Das macht die Sache zu einem gravierenden Problem“, sagte Weltverbands-Funktionär Helmut Digel der Deutschen Presse-Agentur. Der Tübinger sitzt schon seit 1995 im Council der IAAF und hat viele Stürme erlebt. Auch er fragt sich: Quo vadis, Leichtathletik?
Die ersten Funktionäre sind zurückgetreten, Berater haben sich hinter die Deckung zurückgezogen. Die neue Ethik-Kommission der IAAF und die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA kündigten Untersuchungen an, zwei Olympiasieger mit Ambitionen auf die IAAF-Präsidentschaft meldeten sich zu Wort: Sebastian Coe und Sergej Bubka. Der Brite sprach von einer „entsetzlichen Woche für die Leichtathletik“ und forderte via Twitter: „Wir müssen handeln, um den Sport zu schützen und den Image-Schaden zu beheben.“
Der ehemalige Weltklasse-Stabhochspringer Bubka sagte: „Als Vizepräsident der IAAF bin ich zutiefst geschockt.“ Jetzt müsse man „schnell und transparent“ handeln, „um die Integrität unseres Sports zu schützen“. Es wird allgemein erwartet, dass sich nach Coe auch Bubka im kommenden Jahr um das Amt des scheidenden IAAF-Präsidenten Lamine Diack bewirbt.
Aufklärung, Transparenz und möglicherweise Sanktionen sind jetzt unabdingbar - und für die Leichtathletik lebenswichtig. Auch für Richard Pound. Der frühere WADA-Chef wird die dreiköpfige Kommission zur Aufklärung der massiven Vorwürfe gegen den russischen Spitzensport leiten. Es geht um Doping, Korruption, Vertuschung und Verschleppung. Selbst Kontrolleure sollen gemauschelt haben, unlautere Finanzgeschäfte kommen hinzu.
Nach IAAF-Schatzmeister Valentin Balachnitschew war in der vorigen Woche auch der Direktor der Anti-Doping-Abteilung in der IAAF, der Franzose Gabriel Dollé, zurückgetreten. Papa Massata Diack, der Sohn des IAAF-Präsidenten, lässt seine Tätigkeit als Marketingberater vorläufig ruhen.
„Wir sind nicht dazu da, um irgend etwas unter den Tisch zu kehren“, versicherte Pound. „Wir sind da, um Fakten zu sammeln, Schlussfolgerungen zu ziehen und Vorschläge zu machen“, kündigte der Kanadier an, der die dreiköpfige Ermittlungskommission leitet. Die Untersuchungen sollen im Januar 2015 beginnen - erst einen Monat nach Ausstrahlung der ARD-Dokumentation.
Bereits vor knapp zwei Jahren, Anfang 2013, hatte Kronzeugin Julia Stepanowa die WADA in einem Brief über systematisches Doping in der russischen Leichtathletik informiert. Bis heute habe sie keine Antwort erhalten. „Wir hoffen, dass sich nun jemand von der IAAF oder der WADA bei uns meldet, um das gesamte Material anzusehen“, sagte die frühere 800-Meter-Weltklasseläuferin in einem FAZ-Interview. Belege für weitreichende Doping-Praktiken im russischen Spitzensport hatten sie und ihr Mann Witali in der ARD publik gemacht. „Der russische Verband will uns verklagen. Aber wir haben Beweise“, erklärte Stepanowa.
Ohne die Kooperation mit den russischen Ermittlern und Kronzeugen, das weiß auch Pound, dürfte die Fahndung im Sande verlaufen. „Der russische Sportminister kann kein Interesse daran haben, dass er Dopingbetrüger schützt“, meinte Digel. Sonst „kann er sich aus der internationalen Sportgemeinschaft verabschieden“.
Für den anerkannten Sportsoziologen ist Doping „kein neues Problem“. Immer wieder treten Athleten auf, „die andere betrügen und sich dadurch einen Vorteil verschaffen“. Das eigentliche Problem sei, „dass es sich immer wieder herausstellt, dass der Betrug sich lohnt und dadurch nachahmenswert wird“.