Osnabrück. Sportwissenschaftler Schaffrath: „Eine WM mit paradoxen Zügen“

Osnabrück · Sportwissenschaftler Michael Schaffrath spricht über leere Ränge in Doha, das heruntergekühlte Stadion in Zeiten des Klimaschutzes und die Inszenierung der Leichtathletik als Show-Event.

Gewohntes Bild: Ein einsamer deutscher Fan im Stadion von Doha. 

Foto: dpa/Nariman El-Mofty

Die Begleitumstände der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Doha sorgen für Diskussionen. Professor Michael Schaffrath leitet an der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften der TU München den Arbeitsbereich für Medien und Kommunikation. Im Interview spricht der 53-Jährige über eine WM als TV-Event und die Folgen für eine olympische Kernsportart.

Herr Schaffrath, wie ist Ihr Eindruck von der Leichtathletik-WM?

Michael Schaffrath: Die Berichterstattung bei ARD und ZDF ist auf dem Niveau, auf dem sie sonst auch  ist. Was aber natürlich auffällt, sind ein leeres Stadion und  keine Stimmung. Das trübt den Gesamteindruck. Wenn da im Stadion nichts los ist, lässt sich das ja selbst durch die buntesten Fernsehbilder nicht kaschieren.

In Doha macht vieles einen sterilen Eindruck. Kann durch so etwas die Seele des Sports verloren gehen?

Schaffrath: Unter der totalen Kommerzialisierung des Sports, der Events und der einzelnen Sportler bin ich mit so pathetischen Begriffen wie „Seele des Sports“ äußerst vorsichtig. Spitzensport im Fernsehen ist eine Ware der Unterhaltungsindustrie, das nach entsprechenden Mechanismen auch bis zur Inszenierung vermarktet wird. Inwieweit dort Seelen verloren gehen, müsste man wohl die einzelnen Sportler fragen. Ich glaube aber, dass die Begriffe Seele und Spitzensport aufgrund der Kommerzialisierung immer weiter auseinandergehen.

Also darf man sich über Dinge wie Kameras im Startblock oder Lichtshows vor Laufentscheidungen nicht wundern.

Schaffrath: Da werden meiner Ansicht nach zwei Dinge vermengt. Die Fernsehsender müssen die teuer eingeworbenen Sendelizenzen irgendwie refinanzieren. Das funktioniert eben auch über verschiedene Kamerapositionen, und da kommt man auf verwegene Ideen. Das ergibt innovative Bilder und eine neue Perspektive, die aber eher kontraproduktiv ist und die eigentlich keiner braucht. Die Lichtshows sind meiner Meinung nach hingegen ein nicht so sehr zu beanstandendes Spektakel. Bei anderen Sportarten gibt es ja auch eine immense Unterhaltungsmaschinerie drumherum, man denke nur mal an das Boxen. Insofern finde ich solche Shows weniger kritisch als unpassende Kameraperspektiven in den Startblöcken.

In welchem Zwiespalt stehen Medien bei solchen Veranstaltungen?

Schaffrath: Ich glaube, dass er relativ groß ist, weil zu einer seriösen Berichterstattung Kritik und Kontrolle gehören. Der viel zu früh verstorbene ZDF-Redakteur Michael Palme hat auf der anderen Seite mal gesagt: „Wir können die Ware, für die wir viel Geld hingelegt haben, nicht kaputtreden.“ Wir haben es hier mit einer WM zu tun, die einige paradoxe Züge entwickelt und dem Sport eher schaden als nutzen wird.

Was bedeutet das mit Blick auf Olympia 2020, wo in Tokio vermutlich ähnliche äußere Bedinungen herrschen werden wie jetzt? Oder mit Blick auf die Fußball-WM 2022, die  ebenfalls in Katar sein wird?

Schaffrath: Auch da gilt die Frage, ob es sinnvoll ist, Sportveranstaltungen in Ländern auszutragen, in denen solche klimatischen Bedingungen herrschen. Für die Physiologie der Sportler ist es sicher abträglich. Es ist schon grotesk. Weite Teile der Welt reden über Klimawandel und Klimaschutz. Und hier wird ein Stadion künstlich herunter gekühlt, damit es halbwegs annehmbar ist. Das ist doch paradox, um nicht zu sagen pervers. Das passt im Moment nicht zusammen, und wenn das künftig ähnlich sein wird, muss man sich als Vermarkter oder Verband auch mal hinterfragen, inwieweit das noch ins gesellschaftspolitische Spektrum passt. Darüber hinaus muss auch die Frage gestellt werden, was man den Athletinnen und Athleten antut, die unter solchen Bedingungen starten müssen. Das scheint mir ein Problem seitens der Funktionäre zu sein, dass man die berechtigten Interessen der Sportler ein bisschen zu sehr aus den Augen verliert.

Aber das Interesse gerade am Fußball ist ja ungebrochen.

Schaffrath: Ja, wobei wir da auch mal abwarten müssen. Die WM 2022 beginnt Mitte November und endet kurz vor Weihnachten. Das ist gerade für die fußballinteressierte Bevölkerung in Europa eine ganz neue Situation. Sie können die Spiele nicht im Garten mit Grillwurst und Bier rezipieren, sondern mit Spekulatius und Adventsschokolade. Inwieweit das dann ein Publikumserfolg wird –  da  bin ich im Moment skeptisch. Wenn es sich dann noch in Katar in den Stadien von der Zuschauerzahl nicht so widerspiegelt, wie man es gewohnt ist bei Fußball-Weltmeisterschaften, hat es wohl auch den Effekt, dass es hier nicht so angenommen wird, wie es die Fifa erhofft oder auch erwartet.

Nochmal mit Blick auf die Leichtathletik: Wie sehr kann eine WM wie diese einer olympischen Kernsportart in der öffentlichen Wahrnehmung schaden?

Schaffrath: Die Leichtathletik ist zwar olympische Kernsportart, aber ansonsten ist die Berichterstattung über Leichtathletikwettbewerbe relativ stark zurückgegangen, sodass der Sport im öffentlichen Bewusstsein eigentlich nur noch alle paar  Jahre stattfindet. Wenn man dann noch auf solche Ideen kommt, eine WM nach Katar zu vergeben, glaube ich, dass auch der ein oder andere Fan sagt, dass es der Sportart schadet.