Mercedes baut an der Motoren-Zukunft
Brixworth (dpa) - Die Zukunft der Formel 1 beginnt am Rand einer Schafweide. Rechts neben der Mercedes Avenue knabbern die wolligen Vierbeiner am satten Grün, links verwehrt ein gesichertes Tor die Zufahrt zu einem Gebäude-Ensemble in Gewerbegebietsoptik.
Nur der Straßenname und das Firmenschild auf dem gepflegten Rasen lassen erahnen, dass hier das Herzstück für den schillernden Grand-Prix-Sport gefertigt wird. In der 5000-Einwohner-Gemeinde Brixworth in der mittelenglischen Grafschaft Northamptonshire baut Mercedes seine Formel-1-Motoren, die Krone seiner Triebwerke. Ein Ort der Hoffnung und des Aufbruchs für die Sternfahrer, denn hier hat die Motorenrevolution schon begonnen, die spätestens 2014 die Silberpfeile wieder zu Seriensiegern machen soll.
„Das Ziel von Mercedes AMG High Performance Powertrains ist der Gewinn von Formel-1-Weltmeisterschaften“, heißt es ganz unbescheiden auf der Internetseite der Motorenschmiede, einer 100-prozentigen Tochter des Daimler-Konzerns. Seit drei Jahren allerdings blieb dieser Anspruch unerfüllt, weil der Mercedes einfach meistens zu langsam war und stattdessen ein gewisser Sebastian Vettel und sein Renault-getriebener Red Bull sämtliche Titel abräumten.
Der Misserfolg des Mercedes-Teams und seines Starpiloten Michael Schumacher kostete am Ende Norbert Haug den Job als Motorsportchef, nach mehr als 20 Jahren im Amt. Der Österreicher Toto Wolff soll als Nachfolger die Pleitenserie beenden. „Ein Mercedes hat gefälligst zu gewinnen, und vorher wird keiner im Team Ruhe geben“, sagte Haug zum Abschied. Extraschichten also für die Ingenieure und Mitarbeiter in der Teamfabrik in Brackley und im 40 Kilometer entfernten Brixworth.
Von hektischer oder gar panischer Betriebsamkeit aber ist in der Motorenschmiede nichts zu spüren. Im Großraumbüro mit dunkelgrauem Teppich und hellgrauen Funktionsmöbeln hocken knapp 100 Ingenieure konzentriert vor ihren Computern. Bunte Linien und Kreise fügen sich zu 3-D-Modellen von Zylinderköpfen, Ventilen und Pumpen, die den Laien etwas ratlos zurücklassen.
Hywel Thomas jedoch zaubern die digitalen Experimente ein Lächeln ins Gesicht. Der Schlaks aus Südwestengland hat früher Traktormotoren entwickelt. Seit kurzem ist er Chefingenieur in der Mercedes-Fabrik und wirkt doch manchmal wie ein Kind im Spielzeugladen. „Der Wettbewerb, die ständige Entwicklung, das schnelle Umsetzen von Ideen, das interessiert mich“, erklärt der Lockenkopf, der zum smarten Mercedes-Outfit mit weißem Hemd und schwarzer Hose ausgefallene Ringelsocken trägt. „Wenn ich an der Rückwand der Box stehe, der Motor startet und das Auto auf die Strecke fährt, dann beginne ich zu strahlen“, verrät Thomas. „Ein paar Kurven später fangen dann die Sorgen an.“
Rund 3000 Bauteile hat ein Formel-1-Motor. Wenn nur eines versagt, kann alles vorbei sein. PS-Stärke, Effizienz und Zuverlässigkeit, alles muss passen. Das mit einem satten zweistelligen Millionenbetrag entwickelte Mercedes-Aggregat galt in der Vorsaison als das beste im Feld. Neben dem werkseigenen Team lassen sich auch die Mitbewerber McLaren und Force India Motoren aus Brixworth liefern. 48 Renn-Exemplare werden auch in diesem Jahr wieder hier gebaut, je acht für die sechs Piloten der drei Rennställe.
Hinzu kommt noch einmal eine ähnliche Zahl von Motoren, die nur zu Testzwecken in der Fabrik gefertigt werden. Auf dem Prüfstand werden diese Triebwerke durch immer neue Simulationen geschickt. Kabel und Schläuche umranken den Testmotor wie einen Patienten auf dem OP-Tisch. „Hier werden hunderte Parameter getestet“, sagt Hywel Thomas. Einzelheiten aber möchte er lieber nicht preisgeben.
Die Motoren bergen manche der größten Geheimnisse der Formel 1. Neue Bauteile an oder unter den Boliden werden eher früher als später von der Konkurrenz entdeckt und entschlüsselt. In die Motoren kann kein Rivale schauen. Und so werden die Leute von Brixworth bisweilen wortkarg, wenn allzu präzise gefragt wird. Handys von Besuchern werden zur Begrüßung eingesammelt und bis zum Abschied in Tüten versiegelt. Mitschnitte und Fotos sind nicht erwünscht.
Auch in der Fertigungshalle werden Neuankömmlinge misstrauisch beäugt. 90 Mechaniker stellen hier an wuchtigen Präzisionsmaschinen die Kernbauteile der mehr als 760 PS starken Motoren her. „Wir bauen nur die Teile selbst, von denen wir uns einen Wettbewerbsvorteil erwarten“, erklärt Chefingenieur Thomas.
Konstantes Fabrikrauschen begleitet den Arbeitstag. Der weißgelackte Fußboden wird penibel sauber gehalten, in manchen Abschnitten herrschen fast Laborbedingungen. Die Zeiten ölverschmierter Schrauber gehören in der hochprofessionalisierten Formel 1 längst der Vergangenheit an. Hier geht es nicht um Millimeter, es geht um mehr. Eine maximale Toleranz von einem Mikrometer, also 0,001 Millimetern ist der Maßstab, den sich Mercedes bei der Fertigung der Motorenteile setzt.
Dass sich der Aufwand lohnt, sehen die Mitarbeiter jeden Tag auf dem Weg an ihren Arbeitsplatz, wenn sie die Vitrinen mit den vielen Siegerpokalen vergangener Rennen passieren. Die Trophäe von Melbourne 1997 steht da, der Schotte David Coulthard holte den ersten Sieg mit einem Mercedes-Motor nach 42 Jahren. Der Pokal für Mika Häkkinens WM-entscheidenden Triumph in Suzuka 1998, dem im Jahr darauf ein zweiter Titel folgte. Auch die Kelche für die ersten Grand-Prix-Siege von Kimi Räikkönen und Lewis Hamilton sind ausgestellt. Schöne Erinnerungen.
Aber sie beginnen zu verblassen. Die zwei Silberpfeile von Michael Schumacher, die am Empfang und in der Kantine von der Decke baumeln, dürfen eher als Mahnung verstanden werden. Mercedes ist zwar der erfolgreichste deutsche Motorenbauer in der Formel-1-Historie, das wiederbelebte Werksteam aber versinkt seit drei Jahren im Mittelmaß. Deshalb kommt seit dem vergangenen Herbst der dreimalige Weltmeister Niki Lauda immer öfter zum Fabrikbesuch nach Brixworth und Brackley. Der Österreicher wurde von Daimler als neuer Aufsichtsratsboss des Rennstalls installiert und soll gemeinsam mit Landsmann Wolff schnell die Trendwende einleiten.
„Der aktuelle Zustand ist mehr als kritisch, keine Frage“, urteilte Lauda kurz nach Amtsantritt. Zweieinhalb bis drei Sekunden müsse Mercedes pro Runde auf die Spitze aufholen - in der Formel 1 sind das Welten. Es erscheint zweifelhaft, ob selbst ein anerkannter Steuerkünstler wie der britische Neuzugang Lewis Hamilton schon in diesem Jahr mehr als Achtungserfolge einfahren kann.
Die größte Hoffnung des Silberpfeil-Teams nimmt stattdessen in den Computern und Maschinen von Brixworth Gestalt an. Im kommenden Jahr löst ein neuer Sechszylinder-Motor nach acht Jahren die V8-Triebwerke ab - Chance und Risiko zugleich für den exklusiven Zirkel der derzeit vier Formel-1-Motorenbauer Mercedes, Ferrari, Renault und Cosworth. Die Regeländerungen sind so grundlegend, dass sich der Charakter der Formel 1 enorm verändern könnte. „Es ist eine großartige Industrie. Nur die erfindungsreichsten Ingenieure gewinnen“, schwärmt Andy Cowell, der neue Geschäftsführer der Mercedes-Motorenschmiede.
Sportlich sind die Erwartungen klar. In Brixworth wollen sie einen Motor entwickeln, der effizienter und zugleich leistungsstärker als die Konkurrenzmodelle ist. Statt 210 Liter Benzin für ein Rennen über gut 300 Kilometer dürfen ab 2014 höchstens 140 Liter getankt werden. Statt 2000 Kilometer muss jede Triebwerkseinheit dann 4000 Kilometer halten, fünf statt acht Motoren stehen jedem Piloten pro Saison zu. „Der Motor wird 2014 wieder mehr Einfluss haben. In welchem Ausmaß, das wissen wir erst, wenn es so weit ist“, sagt Cowell.
Manche wie Red-Bull-Designgenie Adrian Newey behaupten, der Motor werde im kommenden Jahr die WM entscheiden. Genau deshalb ist in Brixworth die Vorfreude deutlich zu spüren. Top-Manager Cowell, raspelkurze Haare, Brille, grinst immer wieder versonnen, wenn man ihn nach den Fortschritten in der Entwicklungsabteilung fragt. Aber da ist auch ein Rest Unsicherheit, weil eben niemand genau weiß, ob einer der Rivalen nicht ein paar Tricks mehr in der Kiste hat. „Erst machen alle gemeinsam die Regeln, dann versucht jeder für sich die Lücken zu finden“, beschreibt Cowell den ewigen Formel-1-Wettlauf.
Die Arbeit am Limit der Ingenieurskunst soll aber nicht nur auf der Rennstrecke Ergebnisse erzielen. Die Königsklasse will mit der neuen Motorenformel umweltschonender und alltagstauglicher werden. Geringerer Benzinverbrauch, Hybridtechnik, weniger Hubraum und Turbokraft - die Formel 1 will weniger unvernünftig sein und endlich wieder mehr Erkenntnisse für die Serienproduktion der Autohersteller liefern. „Das Ziel ist, die Formel 1 wieder zum Wegbereiter neuer Technologien zu machen“, erklärt Cowell.
Eines allerdings soll sich bei aller Vernunft nicht ändern. Laut bis zum Ohrenschmerz wird die Formel 1 auch in Zukunft. Die Sorge vieler Fans, der neue Motor werde nur noch schwächlich vor sich hin säuseln, ist unbegründet. Für alle Zweifler hat Cowell extra eine 82-sekündige Datei auf seinen Laptop geladen: eine Simulatorrunde auf dem Hochgeschwindigkeitskurs von Monza mit dem neuen Motor. Es kreischt und es dröhnt, dass PS-Liebhabern das Herz aufgeht. „Ein saftiger Sound“, meint Cowell und drückt auf die Stop-Taste. Die Zukunft muss noch etwas warten.