Albtraum und Spektakel: Tour in der „Hölle des Nordens“
Huy (dpa) - Für Roubaix-Sieger John Degenkolb ist es das Highlight der Tour, für die leichtgewichtigen Topfavoriten der pure Albtraum.
Wenn die Frankreich-Rundfahrt am Dienstag einen Abstecher in die „Hölle des Nordens“ macht, kann sich für manch einen Bergspezialisten der Traum vom Toursieg schon im Flachland erledigen. Auf der vierten Etappe von Seraing nach Cambrai geht es über das berüchtigte Kopfsteinpflaster Nordfrankreichs.
„Für die Fahrer ist es das Allerletzte, für uns Zuschauer ein großes Spektakel, ein Drama“, sagt der langjährige Rad-Veteran Jens Voigt mit Blick auf die Schlüsseletappen der ersten Woche. Voigt hat gut reden. Der 43-Jährige hat die Seiten gewechselt, ist inzwischen Experte für den amerikanischen TV-Sender NBC und muss sich nicht mehr über die Grausamkeiten auf den Pavés ärgern.
Leiden müssen am Dienstag Bergflöhe wie der Kolumbianer Nairo Quintana, der bereits am Sonntag auf der Windkantenetappe nach Zeeland über eine Minute verloren hat. „Die erste Woche kann für Quintana schon entscheidend sein“, sagt Chris Froome. Der Toursieger von 2013 hat aber auch nicht die besten Erinnerungen an Nordfrankreich. Im vergangenen Jahr hatte der Brite das Kopfsteinpflaster erst gar nicht erreicht, nach zwei Stürzen war seine Mission Titelverteidigung wegen eines Handgelenkbruchs erledigt.
Stattdessen legte Vincenzo Nibali den Grundstein für seinen späteren Toursieg. Der Italiener fuhr 2:35 Minuten auf Rivale Alberto Contador heraus, der später in den Vogesen mit einem Schienbeinbruch aufgeben musste. Diesmal muss Nibali zur Aufholjagd ansetzen, nachdem er wie Quintana in Zeeland wertvolle Zeit verlor. Wichtigster Helfer an seiner Seite ist Lars Boom, der im vergangenen Jahr den Höllenritt gewann. Das Skandal-Team Astana wollte unter keinen Umständen auf Boom verzichten, missachtete dafür sogar das Reglement der Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport (MPCC), wonach der Niederländer wegen seines zu niedrigen Cortisolwertes hätte pausieren müssen.
Was für Quintana und Co. der Horror ist, bereitet Degenkolb die reinste Freude. Nach seinem Triumph bei Paris-Roubaix - dem ersten deutschen Sieg seit 1896 - zählt der Frankfurter zu den ersten Anwärtern auf den Tagessieg. „Ich habe mir für diesen Tag viel ausgerechnet. Sicher spricht mein Sieg in Roubaix für mich, aber die Etappe ist nicht mit einem Eintagesklassiker zu vergleichen“, sagt Degenkolb, der noch auf seinen ersten Tour-Etappensieg wartet. Ginge es nach Degenkolb, hätten es auch noch mehr als die sieben Kopfsteinpflasterabschnitte über 13,3 Kilometer sein dürfen.
Die Diskussionen über Sinn oder Unsinn einer derartigen Tortur während der Rundfahrt sind unter den Fahrern allmählich verstummt. „Das gehört zur Tour dazu. Es ist eine großartige Etappe“, sagt Tony Martin, der 2010 auf dem Kopfsteinpflaster heftig stürzte und Prellungen sowie Schürfwunden erlitt.
Ein ähnliches Szenario will Quintana vermeiden. Der Kolumbianer, der ein derartiges Terrain nicht kennt, war im Frühjahr bereits zur Besichtigung der Strecke vor Ort. Danach stellte Movistar-Sportdirektor José Luis Jaimerena fest: „Nairo ist sicherlich nicht ängstlich, aber eines ist klar: Paris-Roubaix wird er nie gewinnen.“