Greipels langer Weg zum Glück - „Der beste Sprint“
Rostock (dpa) - André Greipels Mimik spiegelte Schmerz, Freude und Erleichterung wider. Und auch in der fernen Heimat sorgten die Jubelbilder des Radprofis für ein Gefühlschaos.
Als der Rostocker bei der Tour de France mit dem ersten Etappensieg sein Meisterstück ablieferte, wurde sein ehemaliger Trainer Peter Sager vor dem Fernseher ganz weich. „Mir liefen Freudentränen, dabei bin ich eigentlich ein harter Hund“, erzählte der Jan-Ullrich-Entdecker der Nachrichtenagentur dpa. „Ich habe jetzt noch Herzschmerzen.“
In Frankreich zollte der frühere Sprint-König Erik Zabel Respekt, der inzwischen ausgerechnet den am Dienstag unterlegenen Mark Cavendish betreut: „Das war der beste Sprint, den ich von Greipel je gesehen habe.“ Am Mittwoch drehte Cavendish den Spieß allerdings schon wieder um. Im Massenspurt auf der 11. Etappe siegte der Brite vor Greipel, der mit dem zweiten Platz dennoch seine zweitbeste Tourplatzierung feierte. Dritter wurde der Amerikaner Tyler Farrar.
Zabel, der sechsmal das Sprint-Trikot bei der Tour gewann, traut Greipel weitere Großtaten zu. „Das gibt so viel Selbstvertrauen. Du weißt, du bist ganz vorn angekommen“, betonte Zabel und erinnerte sich an seinen ersten Tour-Etappensieg zum 25. Geburtstag am 7. Juli 1995 in Charleroi - elf weitere Tagessiege folgten.
Greipel hinterließ Eindruck, als er sich in Carmaux an Cavendish vorbeikämpfte. „Die Rache des 'Gorillas'“, schrieb das Tour-Fachblatt „L'Équipe“ am Mittwoch und rechnete vor, dass Greipel im Finish 1800 Watt entwickeln kann, und damit klar mehr als Cavendish (1300). Omega-Teamchef Marc Sargeant beobachtete bei seinem oft als zu nett abgekanzelten Schützling eine Wandlung vom „Teddybär“ zum „Grizzly“. Greipel gönnte sich vier Tage vor seinem 29. Geburtstag zur Belohnung „das große Eis“, wie er im Internet auf einer der vielen virtuellen Postkarten vom „Frankreich-Urlaub“ verkündete.
Mit einer ausgebufften Taktik hatte Greipel seinen großmäuligen Dauerrivalen Cavendish zunächst zum Schweigen gebracht - in der Vergangenheit hatte ihm der Brite in derben Worten oft das Zeug zum Topsprinter abgesprochen. Nach seiner Niederlage fand Cavendish später sogar lobende Worte für den Rostocker. Greipel-Mentor Sager stellte fest: „André war einfach besser - zumindest an diesem Tag.“
Auf dieses Schlüsselerlebnis musste Greipel lange warten. Fünf Jahre lang stand der Mecklenburger in Cavendishs Schatten. Er gewann zwar viele Rennen für sein ehemaliges Team HTC-Highroad, aber bei der Nominierung der Tour-Mannschaft flog er immer aus dem Kader. Der Rennstall setzte nämlich alles auf Cavendish - und gewann. Der Sprinter von der Isle of Man holte Etappensieg um Etappensieg. Greipel sah die Erfolge meist im TV. Eine reelle Chance auf seine erste Tour-Teilnahme hatte er bei seinem alten Team nie - deshalb auch der Wechsel zum Rennstall Omega Pharma-Lotto, bei dem er die Nummer eins im Sprint ist.
In Deutschland verfolgte man den Sprint-Triumph von Carmaux mit Genugtuung. Sager, der Greipel acht Jahre lange betreute, sagte: „Vor der Tour war er noch einmal bei mir. Wir haben lange gesprochen und sogar noch einmal trainiert.“ Das Telefon des 68-Jährigen steht momentan nicht still. „Jan Ullrichs Mutter hat spontan angerufen, weil sie sich so gefreut hat“, erzählt Sager, in dessen Hausflur noch ein Gelbes Trikot von Ullrich hängt. „Aber auch von André habe ich zwei Trikots - von der Spanien-Rundfahrt und der Pro-Tour-Rennserie.“
Ein weiteres kommt wohl bald dazu, das sich Sager - der natürlich schon mit Greipel telefoniert hat - selbst abholen will. „Ich reise mit meinem Sohn Henning, der mit André noch selbst gefahren ist, nach Paris. Wir wollen sehen, wie André über die Champs-Élysées fährt.“