Martin: Kahnbeinbruch, Schmerzen, Angst um Olympia
Lüttich (dpa) - Mit dem Traum von Gelb war Tony Martin in die Tour de France gestartet - zwei Etappen, eine Reifenpanne, einen Unfall und einen Kahnbeinbruch später geht es für den Radprofi nur noch um Schadensbegrenzung im Hinblick auf die Olympischen Spiele.
„Jetzt heißt es, sich durchbeißen“, sagte Martin sichtbar geknickt, als er zum Start der 2. Etappe aus dem Teambus stieg. Die linke Hand war in einer rund 30 Zentimeter langen Plastikschiene fixiert, ein auch nur annähernd normales Rennen ist für den gebürtigen Cottbuser nicht möglich. „Die Angst fährt mit“, räumte Martin ein - die Angst, dass auch der Olympia-Traum platzt.
Die Hoffnung auf einen Start beim Zeitfahren von London am 1. August sei „definitiv“ noch da. Zu den Top-Favoriten gehört der Weltmeister aber seit seinem folgenschweren Sturz vom Sonntag nicht mehr. „Jetzt muss ich Moral zeigen“, sagte der Fahrer von Omega Pharma-Quick Step, der mit den Ärzten abwägen musste, ob eine Tour-Weiterfahrt Sinn macht. „Die Chance, dass sich die Verletzung verschlechtert, ist gering“, sagte er.
Die erste Etappe verlief dann den Umständen entsprechend gut. Mit knapp viereinhalb Minuten Rückstand auf Sieger Mark Cavendish rollte er in Tournai ins Ziel. „Die Etappe kam mir entgegen. Nur beim Bergabfahren hatte ich leichte Probleme, weil ich den verletzten Daumen nicht richtig um das Lenkrad klammern konnte“, sagte er. Auch am Dienstag in Orchies will Martin wieder am Start stehen.
Das nächste große Ziel ist nun das Zeitfahren am kommenden Montag in Besancon - bis dahin muss sich Martin möglichst unfallfrei von Etappe zu Etappe quälen. Schmerzmittel kann er wegen der Anti-Doping-Regeln nur eingeschränkt nehmen. Eine Ankunft in Paris ist wohl ausgeschlossen, die schwierigen Alpen und Pyrenäen wird sich der 27-Jährige kaum antun. „Ich sage nicht, dass ich durchfahre, aber ich werde es probieren“, unterstrich Martin vielsagend.
Nach seinem Sturz auf der 1. Etappe hatte sich Martin noch trotz Schmerzen in einer beachtlichen Zeit ins Ziel gequält. Dort, inmitten Tausender Fans, Reporter und Betreuer, begann das große Zittern. Schon unmittelbar nach der Zieldurchfahrt zeigte er völlig entkräftet und frustriert auf seinen Daumen. „Es sieht nicht allzu gut aus“, so Teamarzt Helge Riepenhof in einer ersten Reaktion.
Die Befürchtungen bestätigten sich am Montagmorgen. Das Kahnbein der linken Hand war gebrochen. Eine Operation während der Tour ist unmöglich, täglich muss überprüft werden, ob sich die Knochen nicht verschieben. Riepenhof rechnete im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa vor: „Unter normalen Umständen dauert eine Heilung zwölf Wochen, bei kompletter Ruhigstellung sechs.“
Nun bietet die Tour de France aber keine normalen Umstände, und ruhiggestellt ist Martins Hand bei dem Höllenritt durch Belgien und Frankreich trotz der Fixierung erst recht nicht. „Man wird mich oft am Ende des Feldes sehen“, kündigte der Profi bereits an. Vor dem Start der 2. Etappe in Visé nahe Lüttich sprachen ihm fünf der 13 deutschen Tour-Starter demonstrativ Mut zu.
Für Martin verlief das Jahr 2012 bislang katastrophal. Zunächst verpasste er die Titelverteidigung bei Paris-Nizza klar, dann verletzte er sich bei einem Trainingssturz in seiner Wahlheimat auf der Schweizer Seite des Bodensees schwer im Gesicht. Schließlich kassierte er bei der Tour-Generalprobe, der Dauphiné-Rundfahrt, auch noch eine Zeitfahr-Schlappe gegen den britischen Rivalen Bradley Wiggins. Der absolute Tiefpunkt folgte nun am ersten Tour-Wochenende.
Dabei steht dem gelernten Polizeimeister die einmalige Chance 2012 noch bevor: In London wollte Martin eigentlich olympisches Gold im Kampf gegen die Uhr gewinnen. Nach der ärztlichen Diagnose wäre derzeit schon ein Start bei Olympia ein Erfolg.