„Stantastisch“ - Wawrinka tritt aus Federers Schatten
Melbourne (dpa) - Nein, viel geschlafen hatte er nicht. Das sah man Stanislas Wawrinka am Morgen an, als er unter strahlend blauem Himmel am Yarra River von Melbourne mit dem Norman Brookes Challenge Cup für die Fotografen posierte.
Die Nacht war kurz, gestand der Schweizer mit schmalen Augen, die nicht nur wegen der grellen Sonne etwas kleiner waren als sonst. Doch wer wollte es dem Überraschungschampion der Australian Open verdenken, dass er den ersten Grand-Slam-Titel seiner Tennis-Karriere nach einem stundenlangen Interview-Marathon noch im Kreise seines Teams gefeiert hatte.
Richtig krachen ließ es Wawrinka dabei aber nicht, dafür war er zu überwältigt von den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen. Als er endlich im Hotel angekommen war, nahm er erst einmal via Skype Kontakt zu seiner Frau Ilham und der dreijährigen Tochter Alexia auf, die seinen Siegeszug von daheim aus bewundert hatten.
Auch am Morgen danach fiel es Wawrinka schwer zu realisieren, was Stunden zuvor passiert war. „Es fühlt sich immer noch wie ein Traum an“, sagte er, leger gekleidet im weißen Pullover und in grauer Hose. Nie im Leben hatte er damit gerechnet, einmal seinen Namen auf einem der Pokale bei den vier Major-Turnieren zu sehen. Doch rund 13 Stunden nach seinem Finalsieg gegen den am Rücken verletzten Rafael Nadal hatte er nun Gewissheit: Sein Name war tatsächlich in die Trophäe von Melbourne graviert.
„Es ist alles ein bisschen verrückt“, meinte Wawrinka, der auch in der Stunde seines bislang größten Triumphes so bescheiden blieb wie in den Jahren zuvor. Ob denn sein nächstes Ziel jetzt die Nummer eins in der Weltrangliste sei, wurde der bis auf Platz drei vorgestoßene Eidgenosse gefragt. Aber so vermessen ist Wawrinka nicht. „Ich finde, dass ist so weit weg, so weit über meinem Level“, meinte er. „Deshalb ist es nicht mein Ziel.“
In seiner Schweizer Heimat trauen sie „Stan the Man“ inzwischen dagegen alles zu. Die Zeitungen überschlugen sich am Montag mit Lobeshymnen auf ihre neue Nummer eins. Denn erstmals steht Wawrinka im Ranking vor Roger Federer, jenem Landsmann, in dessen Schatten er seine komplette Karriere über stand. „Stantastisch“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“. „Wer vor 13 Monaten gesagt hätte, Stanislas Wawrinka werde in nicht allzu ferner Zeit einen Grand-Slam-Titel gewinnen, in der Weltrangliste auf Platz 3 vorstoßen und Roger Federer als führenden Schweizer ablösen, der wäre wahrscheinlich für unzurechnungsfähig erklärt worden.“
Doch all das ist nun geschehen. Für den „Tages-Anzeiger“ ein „Triumph von Arbeit, Mut und Demut“. Denn Wawrinka hat viele Rückschläge hinnehmen müssen bis zum großen Erfolg am Nationalfeiertag der Australier. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail Better“ - diesen Satz des irischen Schriftstellers Samuel Beckett hat er sich vor einem Jahr auf den Unterarm tätowieren lassen. Sein Lebensmotto ist er längst. „Ich habe den Satz schon seit vielen Jahren im Kopf, er war Teil meines Lebens. Er ist so, wie ich das Leben sehe, vor allem das Tennis-Leben“, sagte der Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin.
Noch am Montagabend ließ Wawrinka, der in der Schweiz auf einem Bauernhof mit angeschlossenem Heim für geistig Behinderte und Suchtkranke aufwuchs, Australien hinter sich. Bereits am Wochenende steht das Davis-Cup-Duell in Serbien auf dem Programm. Während der Weltranglisten-Zweite Novak Djokovic und Federer pausieren, ist es für Wawrinka keine Frage, dass er dabei ist. „Ich liebe es, für mein Land zu spielen.“ Danach will er sich ein paar Tage zurückziehen und reflektieren, was eigentlich passiert ist.
Wenn er im kommenden Jahr nach Melbourne zurückgekehrt, wird er ein anderer Tennisprofi sein - ein Grand-Slam-Champion. An seiner Bescheidenheit wird das aber nichts ändern. „Das Erste, was ich dann machen werde, ist ein Foto von mir selbst zu schießen“, sagte Wawrinka mit Blick auf die Bildergalerie der Sieger in den Gängen der Rod Laver Arena. „Wenn ich all diese Champions sehe, für mich sind das die richtigen Champions. Jetzt auch da zu sein, ist etwas ganz Verrücktes.“