Vom Rettungsschlitten in die Punkte: Vonns Soldeu-Story
Soldeu (dpa) - Im dichten Schneetreiben der Pyrenäen schien am Vortag alles vorbei zu sein. Lindsey Vonns Saison, der Kampf um die große Kristallkugel, und vielleicht sogar die beeindruckende Jagd der Amerikanerin auf die letzten verbliebenen Rekorde im alpinen Ski-Weltcup.
Nach einem Sturz wurde Vonn vom Rettungsschlitten ins Tal gebracht. Stundenlang gab es keine Auskunft über den Zustand der Glamour-Athletin, die schon so viele Verletzungen hinter sich hat.
Dann kam der Sonntag. In Soldeu stand eine Kombination an, und Vonn ging in Andorra nicht nur an den Start, sondern durfte am Ende sogar einen kleinen Erfolg bejubeln. Beim Sieg von Marie-Michele Gagnon aus Kanada landete sie nach beeindruckender Zwischenbestzeit im Super-G am Ende auf dem 13. Platz und baute ihren Vorsprung in der Gesamtwertung aus.
„Ich bin eine Kämpferin“, sagte die 31-Jährige. Vonn ist nach wie vor die größte Attraktion im alpinen Damen-Weltcup und hat ihrer Vita eine weitere Story hinzugefügt, wie sie gerade Amerikaner lieben.
Vor ihren zwei Fahrten am Sonntag wusste sich die extrovertierte Sportlerin nämlich dramatisch zu inszenieren: Nach den Stunden des Bangens und Wartens stellte sie am Samstagabend ein Foto ihres dick bandagierten linken Knies ins Internet - verbunden mit der Entwarnung, dass sich bei einer ersten Röntgenuntersuchung die Verletzung nur als Haarriss im Knochen herausgestellt hatte. Vor der Kombination folgte ein Kurzvideo davon, wie ihr mit einer großen Spritze Flüssigkeit und Blut aus dem Knie gesaugt wurde. Vonns Stöhnen war zu hören.
„Niemand kann mich je ein Weichei nennen!“, twitterte sie nach dem ersten Teil der Kombination, einen Super-G. Den war sie mit Schienen an beiden Knien gefahren. Aufhalten konnte sie das nicht. „Ich habe mit dem Herzen alles gegeben“, sagte sie. „Wenn ich nicht gefahren wäre, wäre der Weltcup vorbei gewesen.“
Das war natürlich übertrieben. Aber so ist Vonn: Immer am Limit, immer extrem. „Ich werde nicht aufgeben und bis zum Ende kämpfen“, sagte sie im Ziel von Soldeu und gab das Motto aus. „Jetzt leiden und für immer im Ruhm leben. Ich bin alt, aber noch nicht fertig.“
Vonn hat nur noch Siege und Rekorde im Blick: Bei den Damen ist sie mit 76 Weltcup-Siegen schon seit der Vorsaison top, nun hat sie Ingemar Stenmarks Herren-Bestmarke von 86 Erfolgen im Visier.
Die Marke kann sie in dieser Saison nicht mehr erreichen, erst recht nicht mit einem angeschlagenen Knie. Den Gesamtweltcup, den will sie aber unbedingt ein fünftes Mal erobern. „Ich bin fast fertig mit meiner Karriere, habe nur noch zwei Jahre. Ich weiß nicht, ob ich noch eine weitere Chance habe, das zu gewinnen.“ Mit fünf großen Kristallkugeln würde sie Rekordfrau Annemarie Moser-Pröll einholen.
Nach dem ereignisreichen Wochenende von Andorra ist sie dem Schritt ein bisschen näher gekommen. Sie profitierte dabei auch von den Patzern ihrer einzig verbliebenen Rivalin Lara Gut, die vor ihrem Ausfall in der Kombi am Samstag nur 16. geworden war. Als Starterin nach Vonn musste sie wegen der etwa 15-minütigen Unterbrechung lange warten, in der Zeit machte Neuschnee die Piste sehr langsam.
Vonn wurde deswegen auch gefragt, was sie denn jenen Leute sage, die ihr vorwerfen, sie habe aus Kalkül eine Show abgezogen. Lara Gut etwa meinte im ZDF angesprochen auf ein Psychospiel ihrer Gegnerin, die trotz Verletzung am Start stand: „Sie macht das immer, macht ein bisschen Theater.“ Unabhängig von der Spitze meinte Vonn: „Ich bin da oben gelegen, hatte Schmerzen. Ich wollte das nicht, wollte nicht verletzt sein. Aber jeder kann etwas sagen, das ist mir wurscht!“