Alptraum dahoam: Vize-Bayern in Schockstarre
München (dpa) - Als Chelsea-Kapitän Frank Lampard den silbernen Pokal siegestrunken im Konfettiregen zum Himmel reckte, mochten die am Boden kauernden Vize-Bayern dem Alptraum dahoam nicht länger zusehen.
Die Schockstarre nach dem 3:4 im Elfmeterdrama löste sich auch nicht nachts im Münchner Postpalast, wo bei der ausgefallenen Jubelparty keiner das Unfassbare begreifen konnte. In seinem historischen Ausmaß übertraf es selbst den Sekundentod der Kahns und Effenbergs im Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United.
„Grausam, grausam“, stammelte Präsident Uli Hoeneß mit einem Bier in der Hand. Nach „dem Wahnsinn“ im Stadion war er auf der Tribüne von seiner Frau Susi umarmt und getröstet worden, während Bastian Schweinsteiger & Co. auf dem Rasen und in der Kabine Rotz und Wasser heulten. „Soooooooooooo bitter! Fußball kann grausam sein!“, schrieb der verhinderte Matchwinner Thomas Müller nach einer schlaflosen Nacht auf seiner Facebook-Seite an Freunde und Fans. Das Spiel des Lebens endete für die ungekrönte Generation um die Kapitäne Lahm und Schweinsteiger mit dem heftigsten Titel-K.o. des Jahres.
Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge richtete nachts um 2.15 Uhr in seiner Bankett-Rede, „die ich in diesem Stil nie führen wollte“, sehr bedachte Worte an Spieler, Trainer, Ehrengäste und Mitarbeiter. „Ich habe das 1999 erlebt, als wir in Barcelona so dramatisch 1:2 verloren haben. Das war damals auch unglaublich brutal. Aber ich habe fast den Eindruck, das ist irgendwie noch bitterer, noch brutaler und eigentlich auch überflüssiger. Und das tut unglaublich weh.“
Ob bei Rummenigge oder Hoeneß, bei Trainer Jupp Heynckes oder dem mehr und mehr zum Leader wachsenden Torhüter Manuel Neuer - immer und immer wieder war nach diesem Drei-Stunden-Drama vor 62 500 im Stadion und Millionen vor den Bildschirmen von jenen „drei Matchbällen“ die Rede, welche die Bayern verschenkt hatten. „Wir haben schon eine Hand am Pokal gehabt, deshalb tut es so weh“, kommentierte Neuer.
Bayern war in allem besser, nur nicht im Gewinnen. Das 1:0 von Müller in der 83. Minute glich Chelsea-Held Didier Drogba (88.) aus. „Die Führung muss man über die Zeit bringen“, kritisierte Heynckes sein Team. In der Verlängerung wiederholte dann Arjen Robben seinen Elfmeter-Alptraum von Dortmund. Und im Elfmeterschießen vergaben die Münchner eine 3:1-Führung - und das gegen Engländer!
„Lahm, der in Madrid nicht getroffen hat, macht ihn rein. Manuel hält den ersten - da denkst du, jetzt ist es passiert“, schilderte Hoeneß die Szenen zwischen Triumphgefühl und Tiefschlag.
Ivica Olic und Schweinsteiger, der nervenstarke Schütze des letzten entscheidenden Elfmeters beim Halbfinal-Krimi in Madrid gegen Real, sie versagten vom Punkt. „Das ist keine Niederlage, die man an einem Abend abstreift. Das ist eine Niederlage, die einen verfolgen wird“, sagte Sportdirektor Christian Nerlinger geschockt voraus.
In allen „statistischen Zahlen“ war man überlegen, wie Heynckes betonte, der seiner Mannschaft „über weite Strecken eine überragende Leistung“ attestierte. „Aber wir dürfen nicht die Verantwortung beim Spielstil von Chelsea suchen“, betonte der Coach selbstkritisch.
Wenn die Tränen getrocknet sind, werden Bosse und Trainer die Saison sehr scharf analysieren (müssen). Zunächst aber muss das Team am Dienstag noch das Robben-Wiedergutmachungsspiel gegen Holland bestreiten. „Es wäre ein schönes Spiel geworden, wenn wir gewonnen hätten“, bemerkte Hoeneß. Der Präsident fing noch in der Nacht mit der kritischen Aufarbeitung der Spielzeit an. „Wir haben immer über Leverkusen gelächelt, jetzt sind wir in einer ähnlichen Situation.“
Er habe am Samstagabend „schon ein paar Dinge gesehen, die mir nicht gefallen haben“, bemerkte Hoeneß. National ist Double-Sieger Borussia Dortmund die Nummer 1, in Europa sind die Bayern nach dem verlorenen Finale 2010 gegen Inter Mailand auch wieder „nur“ Zweiter. „Wir können nicht sagen, alles ist in Ordnung, wenn wir dreimal Zweiter sind“, sagte Hoeneß: „Ich bin nicht derjenige, der das so hinnimmt. Einmal kann das passieren, aber zweimal, dreimal...“
Zwei Spielzeiten ohne Titelgewinn, das gab es bei den Bayern zuletzt vor fast zwei Jahrzehnten. Von 1991 bis 1993 blieb der deutsche Rekordchampion sogar drei Jahre lang ohne Trophäe.
Das soll sich in der schweren Nach-EM-Saison 2012/13 auf keinen Fall wiederholen. „Wenn man was Positives rausnehmen kann, dann, dass wir alle in einem sehr guten Fußballalter sind, dass der Kern immer noch die nächsten drei, vier Jahre zusammenbleiben kann. Wir sind noch hungriger, nachdem wir es jetzt nicht geschafft haben“, verkündete Lahm. Die titellose Generation um Lahm und Schweinsteiger, den noch jüngeren Neuer, Gomez, Müller, Kroos sowie den im Finale gesperrten Badstuber und Alaba ist ebenso noch jung genug wie die zwei Superstars Robben und Franck Ribéry, die in den ganz großen Spielen nicht zu Champions aufstiegen wie Chelseas Veteran Drogba.
Einfach weiter so? Nicht mit Hoeneß: „Vielleicht müssen wir uns fragen, warum es so passiert ist, ob das die Spieler sind, die das erzwingen. Ob wir davon genug haben“, sinnierte der Präsident. Er stellte die Typ-Frage, erinnerte an die Königsklassen-Sieger von 2001. „Ich habe heute keinen Jens Jeremies gesehen, der schon beim Einlaufen den Gegner in die Waden beißt.“
Der 67-jährige Heynckes soll als Trainer den Neuangriff angehen, so ist es stets verkündet worden. Hoeneß ist bereit, den Geldspeicher für neue Führungskräfte zu öffnen. Aber nicht in dem Maße wie beim „Einkaufswahnsinn“ 2007, als Luca Toni, Ribéry und Miroslav Klose für viele, viele Millionen eingekauft wurden.
Für Chelsea-Eigner Roman Abramowitsch hat sich sein Einsatz in Milliardenhöhe am 19. Mai 2012 endlich „ausgezahlt“, wie Finalheld Drogba jubelte: „Das ist der Geist dieses Clubs. Ich bin seit acht Jahren bei Chelsea. Wir haben gelernt, niemals aufzugeben.“