Was wollte er dort? Amris Tod: Viele offene Fragen auch in Italien
Sesto San Giovanni (dpa) - Es sind gemischte Gefühle, die die Menschen in Sesto San Giovanni umtreiben. Sie sind stolz, dass in ihrer Stadt in Norditalien die Reise von Europas bis dahin meistgesuchtem Mann zu Ende ging.
Sie fragen sich aber auch, was der mutmaßliche Berliner Attentäter Anis Amri in ihrem Heimatort vor den Toren von Mailand eigentlich wollte. Wollte er nach der Todesfahrt auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Italien untertauchen oder weiterreisen? Oder wollte er sich möglicherweise in dem Land, in dem er vor Jahren lange in Haft saß, rächen? Hatte er hier Unterstützer?
Die Bewohner der Stadt würden zwischen „verständlicher Sorge und vor allem großen Stolz“ schwanken, sagte die Bürgermeisterin Monica Chitto. „Diese Person läuft quer durch Europa und wird hier in Sesto San Giovanni gefasst.“ Polizisten hatten Amri bei einer Routinekontrolle in der Nacht zu Freitag erschossen, nachdem dieser mit einer Pistole auf sie gezielt hatte.
Verschiedene Hypothesen werden nun verbreitet, was Amri nach Italien trieb - einem Land in dem er polizeibekannt war. Hier kam der Tunesier 2011 nach einer Flucht aus seiner Heimat über das Mittelmeer an, soll vier Jahre in italienischen Gefängnissen gesessen und sich radikalisiert haben, bevor er sich 2015 nach Deutschland absetzte.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er aus alter Zeit noch Kontakte in Italien hatte. Eine Theorie lautet, er wollte von Sesto San Giovanni weiter, weg aus Europa, möglicherweise nach Marokko. In der Nähe des Bahnhofs, in dem Amri in der Nacht zu Freitag erschossen wurde, fahren viele Fernbusse ab.
Anwohner sagen, es gebe auch Gerüchte, dass Amri an den Ort zurückgekommen sei, wo er schon einmal war. „Ein Kollege erinnert sich, ihm einmal eine Zigarette angeboten zu haben“, sagte der Taxifahrer Klaus Rigoni.
Eine weitere Hypothese: Amri wollte sich in dem Ort falsche Papiere besorgen, um weiterzureisen. Angeblich gibt es in der Nähe ein Zentrum, gegen das schon einmal ermittelt wurde, weil falsche Dokumente hergestellt worden sein sollen. Die Ermittler wollen sich zu all den Gerüchten nicht äußern.
Laut italienischer Medien gibt es eine starke Gemeinde von Menschen aus dem Maghreb in Sesto San Giovanni. 17 Prozent der mehr als 80 000 Einwohner sind Ausländer, die meisten kommen aus Ägypten, Rumänien, Peru oder Ecuador. Tunesier wie Amri gebe es wenige, heißt es allerdings bei der Stadt.
Anwohner Ruggero Cassano kann in seiner Stadt kein italienisches Molenbeek erkennen, also den Stadtteil in Brüssel, der als sicherer Hafen für Islamisten bekannt ist. „Unmöglich“, sagt er. „Amri hatte vielleicht Freunde hier, aber ich glaube nicht, dass es hier Terrorzellen gibt.“
Der Vorsitzende des islamischen Zentrums vor Ort, Gueddouda Boubakeur, dankte jedenfalls der Polizei dafür, „den Kriminellen gestoppt zu haben, der gegen uns alle zuschlagen könnte, auch gegen uns“.
Die politische Diskussion über Sicherheit und Terrorgefahr hat auch in Italien nun wieder neue Fahrt aufgenommen - vor allem angesichts der Tatsache, dass hier immer noch Zehntausende Flüchtlinge an den Küsten anlanden. Bisher ist das Land noch von islamistischen Terroranschlägen verschont geblieben. Aber die Angst sitzt auch hier in den Köpfen.
„Wir schaudern davor, wie problemlos Mörder in Italien ein und aus gehen. Italien ist der Stützpunkt Krimineller, die sich hier offensichtlich geschützt und toleriert fühlen“, sagte Maurizio Gasparri, Senator der konservativen Partei Forza Italia. Auch die europakritischen Fünf-Sterne-Protestpartei sprang auf den Zug auf. Ihr Gründer Beppe Grillo forderte am Freitag die sofortige Abschiebung aller illegaler Migranten. „Die Migrationslage ist außer Kontrolle geraten(...). Italien ist zum Kreuzweg von Terroristen geworden, die dank Schengen ungestört durch ganz Europa reisen können.“