Analyse: Angriff „gegen die gesamte Nation“
Istanbul (dpa) - Diesmal trifft der Terror die Türkei inmitten des Regierungsviertels Cankaya in der Hauptstadt Ankara. Ein Konvoi mit Bussen der Armee hält am Mittwochabend an einer Ampel in der Nähe des Parlaments; die Fahrzeuge transportieren Angehörige der Streitkräfte.
Mit militärischer Präzision dokumentiert die Armee den Zeitpunkt des Anschlags: 18.31 Uhr ist es, als neben den Bussen vermutlich eine Autobombe detoniert. Die Detonation ist so gewaltig, dass sie in anderen Stadtteilen deutlich zu hören ist. Über Ankara steigt schwarzer Rauch auf.
Mindestens 28 Menschen werden getötet, Dutzende weitere werden verletzt. Unklar ist, wie viele der Opfer Soldaten sind. Vermutlich handelt es sich aber um den schwersten Anschlag auf die türkischen Sicherheitskräfte, seit im Juli vergangenen Jahres eine Waffenruhe mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK kollabiert ist. Zunächst bekennt sich am Mittwoch niemand zu der Bluttat von Ankara. Neben der PKK verüben auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und linksextreme Gruppen Anschläge in der Türkei.
Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus tritt am Abend vor die Fernsehkameras. „Dieser Angriff ist kein Angriff, der sich nur gegen unser Militärpersonal in den Bussen dort richtet“, sagt er. „Dieser Angriff ist ein niederträchtiger, verachtenswerter, boshafter und heimtückischer Angriff, der sich gegen unsere teure Nation, gegen die gesamte Nation richtet.“ Kurtulmus sagt, die Regierung habe noch keine Hinweise darauf, wer für den Anschlag verantwortlich ist.
Einiges deutet aber darauf hin, dass die PKK hinter der Tat stecken könnte. Seit Mitte Dezember geht die Armee mit einer Offensive gegen PKK-Kämpfer vor, die sich in mehreren Städten im Südosten des Landes verschanzt haben. Nach Militärangaben wurden seitdem mehr als 850 PKK-Kämpfer getötet, auch zahlreiche Zivilisten und Angehörige der Sicherheitskräfte kamen ums Leben. Erst in der Nacht zu Mittwoch weiteten die Sicherheitskräfte die Operationen noch einmal aus.
Die PKK ist unter Druck - und greift ihrerseits immer wieder die Sicherheitskräfte an. Auch der Zeitpunkt des Anschlags von Ankara hätte für die militanten Kurden Symbolkraft: Am Montag vor 17 Jahren nahmen türkische Sicherheitskräfte bei einer Operation in Kenya PKK-Chef Abdullah Öcalan gefangen, er ist seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Und seit vergangenem April verweigert die Regierung jeden Kontakt zu Öcalan.
Ende vergangenen Jahres drohten die aus der PKK hervorgegangenen „Kurdischen Freiheitsfalken“ (TAK) nach einem Anschlag in Istanbul mit einer „neuen Kampf-Initiative“ als Reaktion auf die Armeeoffensive „gegen das kurdische Volk“. Die militante Gruppe warnte: „Jede Institution und Einrichtung des Staates ist ein Ziel für uns, und unser Aktionsbereich umfasst die gesamte Türkei.“
Auch wenn die Urheberschaft des Anschlags von Ankara noch nicht geklärt ist: Klar ist, dass die Türkei seit dem Sommer vergangenen Jahres in einem Strudel der Gewalt versinkt. Auch Ankara wurde bereits zum Ziel: Beim schwersten Anschlag seit Gründung der Republik 1923 kamen im Oktober mehr als 100 Menschen ums Leben, die sich für eine pro-kurdische Friedensdemonstration versammelt hatten. Diese Tat wurde von den Behörden dem IS angelastet.
Und erst im vergangenen Monat riss ein Selbstmordattentäter in der historischen Altstadt von Istanbul elf deutsche Urlauber mit in den Tod. Auch für diesen Anschlag machte die Regierung die Terrormiliz verantwortlich, der sich allerdings zu keiner der ihm angelasteten Taten in der Türkei jemals bekannt hat. Und während in den Städten die Angst vor dem Terror wächst, herrschen im Südosten der Türkei - wo die Armee in Wohngebieten Kampfpanzer gegen die PKK einsetzt - bürgerkriegsähnliche Zustände.
Nicht nur wegen der eskalierenden Gewalt ist der Nato-Partner Türkei im internationalen Fokus - sondern auch wegen der Flüchtlingskrise. Der Anschlag von Ankara hat nun auch direkte Auswirkungen auf die immer verzweifeltere Suche nach Lösungen in dieser Krise, in der die Türkei als wichtigstes Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU eine Schlüsselrolle spielt. Eigentlich wollte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag in Brüssel deswegen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu beraten. Davutoglu sagte seine Reise am Mittwochabend aber ab - wegen der Bluttat von Ankara.