Analyse: Schicksals-Gipfel für Merkel?
Berlin (dpa) - Mit dem Mann im weißen Gewand neben Angela Merkel flackert unerwartet ein Funken Hoffnung auf. Die Kanzlerin hat eigentlich wenig Zeit, gleich muss sie mit einer Regierungserklärung den Bürgern erklären, wie sie die Spaltung Europas durch die Flüchtlingskrise verhindern und Deutschland entlasten will.
Doch der Empfang des Staatspräsidenten von Sri Lanka, Maithripala Sirisena, am Mittwoch war lange geplant. Seit rund 40 Jahren war kein Präsident seines Inselstaates mehr in Deutschland. 25 Jahre herrschte Bürgerkrieg zwischen Singhalesen und Tamilen mit Zehntausenden Toten, Verletzten und Flüchtlingen. Und nun steht Sirisena im Kanzleramt und bittet seine damals geflohenen Landsleute, zurückzukehren. Der Frieden sei gesichert, Sri Lanka brauche sie. Ein Traum für Syrien.
Und es zeigt: Krisenbewältigung braucht Zeit. Nicht nur Wochen oder Monate. Jahre. Merkel aber steht unter Zeitdruck. Viele in ihrer eigenen Union wollen Ergebnisse vom EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel sehen. Sie sehen die Belastungsgrenze Deutschlands mit der Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge im vorigen Jahr für überschritten. CSU-Chef Horst Seehofer will vom Ausgang des Gipfels abhängig machen, ob er gegen die Bundesregierung klagt. Er hält Merkels Flüchtlingspolitik für eine „Herrschaft des Unrechts“.
Kaum ein Politiker hat diese Attacke gegen Merkel bisher so entkräftet, wie es der Fraktionschef des Koalitionspartners SPD, Thomas Oppermann, im Bundestag nach Merkels Regierungserklärung macht. Er dekliniert dafür deutsches und europäisches Recht sowie die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin durch. Und sagt: Man könne Merkels Politik kritisieren, aber sie sei bestimmt keine „Herrschaft des Unrechts“. Das sei der gleiche Unsinn, wie ihn Politiker der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland erzählten.
Bitter für die Kanzlerin ist, dass sie eine ihrer Kernforderungen, die in Deutschland ein wichtiges Signal gewesen wäre, sang- und klanglos beerdigen muss: Eine feste und verbindliche Quote zur Verteilung der Flüchtlinge in den 28 EU-Ländern.
Die Forderung sei nun auch „ziemlich lächerlich“, räumt Merkel ein, weil nicht einmal 1000 der 160 000 Flüchtlinge verteilt wurden, die in Italien und Griechenland gestrandet sind und deren Umverteilung schon lange beschlossen wurde. Die Debatte über Kontingente darüber hinaus wäre nun „der zweite Schritt vor dem ersten“, sagt Merkel. Sie muss aber auch aufpassen, dass es keine Rückschritte gibt.
Denn von Solidarität in der Europäischen Union ist nicht mehr viel die Rede. Nur noch von der Hoffnung auf die Türkei. Merkels Dreiklang lautet: mit Hilfe der Türkei illegale Migration begrenzen, EU-Außengrenzen schützen, Fluchtursachen bekämpfen. Die Kanzlerin fragt rhetorisch: Oder müssen wir aufgeben und stattdessen die griechisch-mazedonisch-bulgarische Grenze schließen? Abschottung, ohne zu fragen, was dann mit den Menschen hinter dem Zaun geschehe, könne nicht die europäische Antwort sein, beschwört Merkel.
Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht wirft ihr vor, dass sie selbst nicht hinschaue: Die EU mache die Türkei zum „Flüchtlingsgefängnis“ mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan als „Oberaufseher“.
Mehrere Politiker sprechen von „historischer Bewährungsprobe“, einem „Schicksalsjahr“ für Deutschland und Europa. Und alle wissen, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise maßgeblich vom Krieg in Syrien abhängt. Hört das Töten nicht auf, werden die Menschen weiter fliehen.
Dass die europäische Solidarität in der Flüchtlingskrise ein Fremdwort geworden ist, mag zum Teil auch eine Spätfolge des von vielen als arrogant empfundenen Auftretens Deutschlands in der Griechenland-Krise sein. Und es liegt auch daran, dass der Kanzlerin die wichtigsten Bündnispartner abhandengekommen sind.
Deutlich sichtbar ist das bei den Treffen der konservativen EVP-Parteiengruppe vor dem Gipfel. Da sind derzeit kaum wichtige Regierungschefs dabei. Der Spanier Mariano Rajoy hat vor kurzem seine Parlamentsmehrheit verloren und ist nur noch geschäftsführend im Amt. Nicolas Sarkozy hat die Macht in Paris schon 2012 und Silvio Berlusconi 2011 in Rom verloren. Donald Tusk leitet jetzt zwar die Gipfeltreffen in Brüssel, aber als Regierungschef in Warschau fehlt er Merkel.
Immerhin steht EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker der Kanzlerin bei. Ausgerechnet ein Mann, mit dem Merkel schon so ihre Schwierigkeiten hatte. In der „Bild“-Zeitung ruft er Merkel kurz vor dem Gipfel auf, standhaft zu bleiben. Er zeigt sich überzeugt: „Die Geschichte wird Angela Merkel recht geben.“