Analyse: Assad spielt geschickt auf der Klaviatur westlicher Ängste
Istanbul (dpa) - Unter Einsatz ihres Lebens versuchen die Chemiewaffenexperten der UN herauszufinden, ob die syrische Armee Rebellenhochburgen mit Giftgas bombardiert hat.
Das Ergebnis ihrer Untersuchung könnte das Zünglein an der Waage sein, wenn Nato-Staaten wie Großbritannien, Frankreich, die USA und die Türkei in den nächsten Tagen entscheiden, ob sie einen Militäreinsatz in Syrien wagen wollen.
„Wir haben Informationen erhalten, dass es eine internationale Reaktion (auf den Giftgas-Einsatz) geben wird, höchstwahrscheinlich in Form eines Militärschlags, und zwar schon bald“, sagt der Oppositionelle Luai al-Mekdad. „Einige Staaten wie die USA, Frankreich und Großbritannien haben sogar schon entschieden“, will er erfahren haben. Sollte sich für einen solchen Einsatz tatsächlich eine „Koalition der Willigen“ zusammenfinden, so wie 2003 vor der Invasion im Irak, dann wäre das der entscheidende Wendepunkt in dem Bürgerkrieg, der schon weit über 100 000 Tote gefordert hat.
Anders als damals im Irak, als Propagandalügen über angebliche Massenvernichtungswaffen als Kriegsgrund herhalten mussten, plant derzeit aber niemand, Bodentruppen zu schicken. Die Szenarien, die bislang diskutiert werden, sehen eine Kriegsführung aus der Distanz vor, mit minimalem Risiko für die angreifenden Armeen. Das bedeutet wahrscheinlich den Einsatz von Marschflugkörpern, die Zerstörung der syrischen „Scud“-Raketen und Chemiewaffen-Arsenale, die Durchsetzung einer Flugverbotszone, eventuell flankiert von einer weiteren Aufrüstung bestimmter Rebellen-Brigaden.
Zu möglichen Angriffen auf Lager radikaler islamistischer Brigaden hat sich bislang niemand geäußert. Doch die Frage drängt sich auf, wie die westlichen Strategen sonst verhindern wollen, dass die Kampfverbände der Terroristen von der Schwächung der Regimetruppen durch eine Militärintervention profitieren.
„Es gibt keine Koordination mit der Allianz, was die Auswahl bestimmter militärischer Ziele angeht“, sagt Chalid Chodschja, ein führendes Mitglied der oppositionellen Nationalen Syrischen Allianz. Er vermutet, dass sich westliche Armeen bei einem möglichen Militärschlag gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad darauf beschränken würden, „den extremistischen Gruppen zu drohen“.
Die Diplomaten und Militärs, die in diesen Tagen Strategien entwickeln, wie man den Beschuss von Wohnvierteln mit Artillerie und Raketen stoppen kann, ohne ein gefährliches Machtvakuum zu hinterlassen wie einst im Irak, haben keine leichte Aufgabe. Nachdem mehrere Anläufe, eine politische Lösung zu erreichen, ins Leere gelaufen sind, ist es unendlich schwer, eine Intervention zu planen, die am Ende nicht verbrannte Erde hinterlässt.
Einige Beobachter glauben, dass die Einrichtung einer Flugverbotszone vor eineinhalb Jahren noch das Mittel der Wahl gewesen wäre, um das Blutvergießen zu beenden. Ob dies heute, wo sich Dutzende verschiedene Milizen und Rebellenbrigaden gebildet haben, noch gelingen könnte, sei dagegen fraglich. Diese Zweifel westlicher Politiker kennt auch Präsident Baschar al-Assad. Während in London und Washington an möglichen Szenarien gearbeitet wird, sagt er in einem Interview mit einer russischen Zeitung: „Haben sie nicht verstanden, dass alle diese Kriege nicht dazu geführt haben, dass sie von den Menschen in dieser Region geschätzt werden oder dass diese an ihre politischen Grundsätze glauben?“