Analyse: Bruch mit Russland gefährdet Europas großen Traum
Berlin (dpa) - Zwischen dem Westen und Russland herrscht eisige Stimmung. Dabei vergeht im Drama um die Krim kein Tag ohne Verhandlungen. Die Vision einer europäischen Aussöhnung steht auf dem Spiel.
Oder waren die Hoffnungen der letzten 25 Jahre nur Illusion?
Als der größte Ärger über Russlands Truppeneinmarsch in das Nachbarland verflogen ist, holt Hillary Clinton eine kleine Pappschachtel hervor. Zum Vorschein kommt ein roter Alarmknopf. Mit den Worten „Wir wollen einen Neustart in unseren Beziehungen“ überreicht die US-Außenministerin das Geschenk an ihren Amtskollegen Sergej Lawrow.
Man verurteile zwar den Einmarsch in Südossetien, aber die globale Zusammenarbeit mit den Russen sei wichtiger, lautet die Botschaft der USA. Lachend und spürbar erleichtert drücken die Politiker gemeinsam auf den Knopf, der von dem Wort „Reset“ und einer Übersetzung ins Russische eingerahmt wird.
Das war fast auf den Tag genau vor fünf Jahren. Russland hatte zuvor seine Soldaten nach Südossetien geschickt, allem Anschein nach provoziert durch die georgische Führung. Der Krieg im Südkaukasus hielt die Welt über Tage in Atem.
Von einer neuen Ost-West-Konfrontation war die Rede, doch den großen Bruch mit dem Kreml wollte niemand riskieren. Die Lage in Afghanistan, das iranische Atomprogramm und eine Lösung im Streit über eine Raketenabwehr in Europa waren wichtiger als das Gebiet am Südhang des Kaukasus.
Seit dem Ende des Kalten Krieges schepperte es immer wieder zwischen Moskau und dem Westen. Aber dann rauften sich die Beteiligten so zusammen, dass es zumindest wieder für eine pragmatische Beziehung reichte. Ein Auge zudrücken, einen Neustart wagen, den Blick nach vorn richten: Wenn schon nicht enge Freunde, dann sollten die einstigen Feinde wenigstens Partner sein. Nach der europäischen Katastrophe mit zwei Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte der Kontinent zur dauerhaften Aussöhnung finden.
Mit dem militärischen Vorgehen auf der Krim und der Annexion der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Halbinsel hat sich der Kreml aus Sicht des Westens nun über alle geltenden Regeln hinweggesetzt. „Dies ist die größte Bedrohung für Europas Sicherheit und Stabilität seit dem Ende des Kalten Krieges“, warnt Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Russland stelle damit seine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als internationaler Akteur infrage.
Aber war der Kreml jemals ein „verlässlicher“ Partner des Westens? Zumindest unter Präsident Boris Jelzin und in der frühen Amtszeit seines Nachfolgers Wladimir Putin herrschte in Berlin, Paris und zum Teil auch in Washington die erklärte Hoffnung, Russland langfristig und zum gegenseitigen Nutzen einbinden zu können.
Starke Symbolkraft kam dabei der Aufnahme Russlands in die Gemeinschaft der größten Industriestaaten (G7) zu. Damals taumelte das Riesenreich unter seinem kranken Präsidenten Jelzin, eine Machtübernahme durch die Kommunisten drohte. Russland, die allzeit schwierige Vetomacht im Sicherheitsrat, fand 1998 Einlass in den exklusiven Kreis der Weltpolitik.
Gemeinsam statt gegeneinander lautete die Botschaft. Was der Westen als ein russisches Zur-Vernunft-Kommen nach Jahrzehnten der Konfrontation verstehen wollte, war für die meisten Russen jedoch eine Phase des eigenen Zerfalls und der Schwäche.
Die Herrschaft des Jelzin-Nachfolgers Putin steht nicht nur für die Wiedergeburt eines aggressiven Patriotismus und für das Streben nach der Vormacht in Russlands Nachbarschaft. Wegen seiner Jahre als KGB-Spion in Dresden wurde Putin einst als „der Deutsche im Kreml“ porträtiert. Nach der Jahrtausendwende fühlten sich Bundesregierung und Kreml eng wie nie miteinander verbunden.
Das lag im wesentlichen an der Freundschaft Putins zu Kanzler Gerhard Schröder. In dessen Heimatstadt Hannover ist der 60. Geburtstag des SPD-Politikers auch deshalb bis heute unvergessen, weil Putin dort 2004 mit einem Kosakenchor im Schlepptau aufschlug. Gemeinsam mit Frankreich hatten Deutschland und Russland im Jahr zuvor eine Troika gegen den von den USA angeführten Irakkrieg gebildet.
Die deutsche Russlandpolitik wurde geprägt durch milliardenschwere Leuchtturm-Projekte zur Modernisierung der russischen Wirtschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg in Tschetschenien und den Umgang mit Kremlgegnern kam dabei nicht nur nach Ansicht von Menschenrechtlern zu kurz. Das Riesenreich lasse sich nicht wie eine westliche Demokratie führen, lautete der Leitspruch der Berliner Politik. Mit dieser Haltung war spätestens unter Angela Merkel Schluss. Sie sprach zwar aus DDR-Zeiten Russisch, doch Putin fand mit ihr nicht immer die gleiche Sprache.
Im Rückblick war es weniger der ohne UN-Mandat geführte Irakkrieg unter US-Präsident George W. Bush, der den Glauben vieler Russen an eine harmonische Zukunft mit dem Westen zerstörte. Vier Jahre zuvor hatten Nato-Bomber, ebenfalls ohne Zustimmung des Sicherheitsrates, Ziele in Belgrad angegriffen. Das Vorgehen gegen das serbische Brudervolk brachte Russland in Rage. „Unsere Nachbarn USA gehen nur nach dem Recht des Stärkeren“, sagte Putin in seiner jüngsten Kremlrede, als er mit Bezug auf die Balkankrise von einst den Anschluss der Krim zu legitimieren versuchte.
Bis heute hält sich in Moskau zudem die Überzeugung, die Nato habe einst intern zugesichert, sich nicht bis an die Grenzen Russlands auszubreiten. Doch mittlerweile sind selbst die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum Mitglied des Bündnisses.
Seit Jahren vertritt Putin die Ansicht, dem Westen sei in Sicherheitsfragen nicht zu trauen. Die „New York Times“ sieht eine Wiedergeburt des alten Blockdenkens, wobei Putins Anti-Amerikanismus nicht mehr in der marxistischen Lehre, sondern im überzogenen Nationalismus wurzele. „Hoffentlich dauert diese dunkle Phase nicht so lange wie der letzte Kalte Krieg“, schrieb der frühere US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, frustriert bei Facebook.
Gegenseitige Einreiseverbote, Kontensperrungen und drohende Wirtschaftssanktionen sind nur der sichtbare Teil der Konfrontation. In den Gremien der internationalen Macht hat Russland sich bereits spürbar ins Abseits befördert.
Im UN-Sicherheitsrat gilt die Vetomacht inzwischen als völlig isoliert. Selbst der sonst so treue Partner China stimmte nicht mit Moskau gegen eine Resolution, die das Krim-Referendum verurteilt, sondern enthielt sich nur. Die großen Industrienationen wollen nicht mehr im G8-Format mit Russland weitermachen. Die EU hat den nächsten Russland-Gipfel abgesagt. Während die Ukraine immer weiter nach Westen rücken darf, stellt die Nato ihre gesamten Beziehungen zu Moskau in Frage.
Die Auswirkungen einer neuen europäischen Eiszeit auf die weltpolitische Lage lässt sich allenfalls erahnen. US-Präsident Barack Obama muss fürchten, dass die Russen sein wichtiges außenpolitisches Ziel, den Atom-Kompromiss mit dem Iran, torpedieren werden. Im syrischen Bürgerkrieg hatte Putin von Anfang an keine Bereitschaft gezeigt, Sanktionsschritte gegen das verbündete Regime in Damaskus mitzutragen. Zumindest an der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen sind die Russen beteiligt.
Über Abrüstungsprogramme für Nuklearraketen, den Truppenabzug aus Afghanistan und die Zusammenarbeit im Anti-Terror-Kampf hinaus gibt es für die USA eine weitere wichtige Kooperation mit den Russen. Die Raumstation ISS ist nur noch mit russischen Sojus-Raumschiffen zu erreichen. Vor mehr als zwei Jahren hatten die Amerikaner - im Vertrauen auf die über Jahrzehnte bewährte Kooperation mit den Russen - ihre Space Shuttles außer Dienst gestellt.
Als Außenminister Lawrow im März 2009 den amerikanischen „Reset“-Knopf in Empfang nahm, konnte er es sich nicht verkneifen, Clinton auf einen peinlichen Fehler hinzuweisen. Bei der „Reset“-Übersetzung war eine Silbe vergessen worden, so dass dort auf Russisch das Wort „Überlastung“ stand. Es ist wie ein böses Omen. In den Beziehungen zu Russland droht ein Komplettabsturz inklusive irreparabler Schäden am System.