Analyse: Cameron und die Jugendgewalt

London (dpa) - Es ist so ernüchternd wie eine Krebsdiagnose für eine ganze Gesellschaft. Großbritanniens Premierminister David Cameron hat bei seinem Amtsantritt im vergangenen Jahr die Vision der „Big Society“ ausgerufen.

Noch vor ein paar Tagen hat er London ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele als „großartigste Stadt der Welt“ bezeichnet. Jugendliche Kriminelle haben seinem Land mitsamt seiner Hauptstadt innerhalb von wenigen Tagen die Maske vom Gesicht gerissen.

Am Donnerstag sah sich Cameron bei einer Sondersitzung des Parlaments angesichts massenweise brennender Häuser und geplünderter Geschäfte zu einem ganz anderen Fazit zum Zustand der Nation genötigt. Er sprach von einer „kaputten Gesellschaft.“ Mit allen Mitteln, müsse sie repariert werden.

Fast genauso schlimm wie die Diagnose: Es gibt keine heilsame Medizin für das Geschwür, das aus Gewalt, Drogenmissbrauch, Werteverlust und Perspektivlosigkeit über Jahrzehnte vor allem in den Wohnblocks der Armenviertel herangewachsen ist. „Wir haben nicht die eine, passende Antwort“, musste Cameron zugeben.

Das, worauf Cameron und seine Regierung die Antworten noch finden müssen, ist für den Berliner Protestforscher Simon Teune nicht weniger als eine Sozialrevolte. Großbritannien ist noch immer eine Klassengesellschaft. Hinter dem Adel kommen die Reichen. Dann der Mittelstand, dann die Arbeiterklasse.

Ganz unten sind die Underdogs, meist mit Einwanderer-Wurzeln, oft ohne Bildung, vielfach ohne Arbeit und vor allem ohne Chance. Obwohl sich der Staat und auch viele Kommunen redlich mühen: Bildungsprogramme, Erziehungshilfen, soziale Programme: „Viele Schwarze erfahren noch nicht einmal davon“, sagt der Londoner Sozialforscher und Buchautor Gus John.

Je länger die Krise um Randale, Plünderungen und Gewalt in London und einem halben Dutzend anderer britischer Städte dauert, desto mehr Einzelheiten über den wahren Zustand der „Big Society“ kommen ans Licht. Plötzlich drucken die britischen Zeitungen neben Lippenbekenntnissen und Schönfärbereien von Politikern auch die ernüchternden Erlebnisberichte von Sozialarbeitern, Jugendbetreuern und Bewährungshelfern.

„Eltern werden von ihren eigenen Kindern eingeschüchtert“, sagt etwa Clasford Stirling, ein Farbiger, der im Schwarzenviertel von Tottenham als Fußballtrainer Jugendarbeit macht. „Es gibt eine Erosion an Autorität, und das seit langer Zeit“, meint er. Eltern wiederum kritisieren die Schulen. „Es gibt keine Disziplin dort, keinen Respekt, die Kinder erlauben sich, ihre Lehrer beim Vornamen zu nennen“, sagt eine Mutter.

Auch Cameron bekennt: „Wir haben ein Problem mit Jugendgangs!“ Die hätten die Brandschatzungen und Plündereien der vergangenen Tage angezettelt. Das hatten schon seine Vorgänger von der Labour-Partei erkannt. Schon 1998 wurde „Anti-Social-Behaviour“ („asoziales Verhalten“) als Straftatbestand eingeführt. Die Wirkung enttäuschte: In den Gangs gilt eine Bestrafung deswegen inzwischen als Trophäe.

Der Regierung fällt im Moment nur ein Mittel ein: Null Toleranz! Randalierern soll die Sozialhilfe gestrichen werden. Die Regierung gibt der Polizei mehr Freiraum. Gummigeschosse, Wasserwerfer, de facto ein Vermummungsverbot. Bürgerwehren wurde die Anwendung von Waffengewalt erleichtert. „Jeder, der gewalttätig geworden ist, sollte ins Gefängnis gesteckt werden“, rief Cameron den Richtern am Donnerstag noch zu.

An der Stelle wird offenbar, wie sehr Cameron und seine Regierungstruppe in der Zwickmühle stecken. Die Gefängnisse im Königreich sind gar nicht in der Lage, die vielen straffällig gewordenen Täter aufzunehmen. 80 der 132 Gefängnisse in England und Wales sind nach einem Bericht im „Guardian“ schon jetzt überfüllt, Die Rückfallquote liegt bei 50 Prozent, insgesamt sind mehr als 85 000 Briten hinter Gittern - mehr als je zuvor.

Dem konservativen Parlamentsabgeordneten Sir Peter Tapsell kam deswegen der Einfall, man könnte ja das Wembleystadion zum Riesen-Knast umfunktionieren. Zumindest darauf hatte Premierminister Cameron eine Antwort parat: „Dort finden großartige Sportveranstaltungen statt.“