Analyse: Chaos im Sambaland
Rio de Janeiro (dpa) - Es war die dritte Protestnacht in Brasilien. Doch was absolut friedlich und hoffnungsvoll anfing, endete im Chaos. Hunderttausende Menschen gingen im ganzen Land auf die Straße, um ihren Wunsch nach mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu manifestieren und gegen Korruption zu protestieren.
Das bittere Ende: Straßenschlachten, Tränengas, brennende Barrikaden, in Flammen stehende Autos, ein Toter und viele Verletzte.
In Rio gingen 300 000 Menschen auf die Straße. Treffpunkt war wie in den vergangenen Tagen die Kirche Igreja Candelária im Zentrum der Stadt. Der endlos erscheinende Protestzug setzte sich friedlich über die Avenida Presidente Vargas in Richtung Bürgermeisteramt in Bewegung. Doch plötzlich, gegen 19.30 Uhr, explodierten Tränengasgranaten, liefen die Demonstranten in Panik auseinander.
Dann kam die berittene Polizei, Panzerfahrzeuge fuhren auf. Die Sondereinheiten der Polizei rückten in Keilformation vor. Ein einzelner Mann stellte sich der Truppe in den Weg und wurde weggestoßen. Mindestens 30 Verletzte sind das Resultat dieser Konfrontation. Ein Reporter des TV-Senders Globo wurde von einem Gummigeschoss am Kopf getroffen und zeigte sich blutüberströmt im Fernsehen.
„Die Polizei hat komplett die Kontrolle verloren und ist unfähig, mit solchen Demonstrationen umzugehen“, sagte eine Kollegin des Journalisten während der Live-Übertragung.
Rio war nicht der einzige Ort des Chaos. In In Ribeirão Preto, rund 300 Kilometer von São Paulo entfernt, wurde ein 18-Jähriger an einer von Demonstranten errichteten Barrikade von einem Auto überfahren, wie die Zeitungen „Folha de São Paulo“ und „Estado de São Paulo“ berichteten. Mindestens drei weitere Menschen seien verletzt worden.
An einer Straßenkreuzung in Campinas bei São Paulo spielten sich bürgerkriegsähnlichen Szenen ab. Auch aus Vitória, Brasília, Salvador, Porto Alegre und anderen Städten wurden Zusammenstöße gemeldet. In der Hauptstadt Brasília waren über 30 000 Menschen auf der Straße; in Recife über 50 000.
In der Elf-Millionen-Metropole São Paulo demonstrierten über 100 000 Menschen; dort blieb es weitgehend friedlich. In Brasilien läuft derzeit der Confederations Cup, und am Donnerstag wurden zwei Spiele in Rio und in Salvador ausgetragen. Die Generalprobe zur Fußball-WM ist durch die Proteste, die Randalierer und die Bilder von Straßenschlachten zum Fiasko und das Fußball-Land Brasilien zum Protestland geworden.
Präsidentin Dilma Rousseff hielt sich im Palácio do Planalto auf, unweit der Proteste, die sich zunächst um den Kongress, dem Sitz von Senat und Abgeordnetenhaus, abspielten. Die Staatschefin verschob wegen der angespannten Lage in Brasilien eine Japan-Reise. Sie wolle derzeit nicht eine ganze Woche außer Landes sein, sagte ihr Sprecher. Auch das zeigt den Ernst der Lage.
Unweit des Präsidentsitzes griffen Randalierer das Außenministerium, den Palácio do Itamaraty, an und entzündeten ein Feuer. Trotz massiver Polizeipräsenz gelang es den Demonstranten zu dem Gebäude an der Esplanada dos Ministérios vorzudringen. Auch in der Hauptstadt setzten die Polizisten Tränengas und Pfefferspray ein. Das Regierungsviertel Brasiliens glich zeitweise einem Schlachtfeld, das in den dichten Tränengas-Rauchschwaden unterging.
Dabei hatte Staatschefin Rousseff noch Anfang der Woche stolz und mutig die friedlichen Proteste gelobt, die Brasilien und die Demokratie stärkten. „Die Stimmen der Straße müssen gehört werden“, sagte sie - und eine der Hauptforderungen wurde prompt erfüllt: Die umstrittene Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr wurde zurückgenommen.
Doch in der Nacht zum Freitag war vor allem der ohrenbetäubende Krach explodierender Tränengasgranaten zu hören. Der Fußball und der Confed Cup sind in Brasilien zur Nebensache geworden. Das zeigte sich auch an einer ungewöhnlichen Entscheidung des TV-Senders Globo, der auf die Live-Übertragung des Spiels zwischen Spanien und Tahiti am Donnerstag verzichtete und stattdessen über die Proteste berichtete.