Analyse: Der letzte Akt der Tragödie hat begonnen
Istanbul/Damaskus (dpa) - Mit dem massiven Bombenanschlag von Damaskus hat der syrische Präsident Baschar al-Assad schlagartig die wichtigsten Funktionäre seines Sicherheitsapparates verloren. Die Deserteure der Freien Syrischen Armee blasen zur „Entscheidungsschlacht“.
Dutzende von Soldaten setzen sich in den chaotischen Stunden nach dem Anschlag auf den Krisenstab von der Truppe ab. Die Tatsache, dass es den Regimegegnern gelungen ist, einen „Maulwurf“ in den engsten Zirkel der Macht einzuschleusen, um dort eine Bombe zu platzieren, ist Gift für die Moral der Truppe.
Wer an diesem blutigen Mittwoch eine Umfrage unter Syrern macht, tut sich schwer, jemanden zu finden, der noch an das politische Überleben von Präsident Assad glaubt. Obwohl die vorwiegend von loyalen Offizieren kommandierten Spezialeinheiten den Rebellen von ihrer militärischen Ausrüstung her immer noch weit überlegen sind, erwecken die Gefechte in Damaskus auch bei vielen unbeteiligten Syrern den Eindruck, die Entscheidungsschlacht habe begonnen. Heiß diskutiert wird allerdings die Frage, wie lange dieser letzte Akt der blutigen Tragödie dauern wird - Tage, Wochen oder vielleicht Monate?
Dem diplomatischen Tauziehen zwischen dem Westen und Assads Unterstützern in Moskau und Peking schenken die Menschen in Damaskus kaum noch Beachtung. Sie stehen stattdessen am Fenster und beobachten, wie Militärhubschrauber die in Wohnvierteln versteckten Deserteure unter Beschuss nehmen. Gleichzeitig versuchen Rebellen, Polizeistationen in Damaskus zu attackieren. Zwei Munitionsdepots sollen sie angeblich schon gestürmt haben.
„Die Kämpfe in Damaskus sind der Anfang vom Ende dieses Regimes. Es verliert allmählich die Kontrolle“, sagt Omar al-Muschawa mit Genugtuung. Er gehört zu den Führungskadern der oppositionellen Muslimbruderschaft, die in Istanbul diese Woche nicht nur darüber diskutiert, wie man die Revolution am besten unterstützen kann. Sie lotet auch aus, wie sich die Islamistenbewegung in der „Zeit nach Assad“ positionieren will.
Ein militärisches Eingreifen westlicher Staaten, die verhindern könnten, dass Assad die Luftwaffe gegen die Rebellen einsetzt, wäre den Muslimbrüdern zwar immer noch willkommen. Doch sie sind fest davon überzeugt, dass es die Regimegegner auch alleine schaffen werden, Assad zu stürzen. Al-Muschawa sagt: „Die Menschen in Syrien setzen inzwischen ohnehin keine Hoffnung mehr in die internationale Gemeinschaft, sie haben die Sache jetzt selbst in die Hand genommen.“
Auch die Deserteure und die anderen bewaffneten Rebellen wollen sicherstellen, dass sie in der Stunde Null ihr Stück vom Kuchen erhalten. In einer Erklärung im Namen der Freien Syrischen Armee, die kurz nach dem Anschlag auf den Krisenstab veröffentlicht wurde, heißt es: „Wir rufen alle Revolutionäre in Syrien auf, nicht auf die Erklärungen zu hören, die aus Russland kommen oder aus dem Westen. Denn denen geht es darum, die Sache hier zusammenzuhalten.“ Die Kontrolle entziehe sich Russland, dem Iran und dem Westen jedoch - sie liege jetzt in den Händen der Revolutionäre und der Kämpfer der Freien Syrischen Armee vor Ort.
In einem der vielen Online-Diskussionsforen der Opposition fragt sich ein Mitglied derweil, was der UN-Sondergesandte Kofi Annan angesichts der Eskalation der vergangenen Stunden überhaupt noch erreichen kann: „Annan sucht noch nach einer Lösung, die alle Seiten zufriedenstellt, auch Russland, das wäre vor einer Weile noch in Ordnung gewesen, aber jetzt kann man dazu nur noch sagen, 'Kofi, wach auf, dieser Zug ist schon lange abgefahren'.“
Auch der ehemalige politische Häftling Luai Hussein rechnet mit einer baldigen Wende in dem seit 16 Monaten andauernden Konflikt. Der Oppositionelle glaubt allerdings nicht an einen Umsturz mit Waffengewalt. In einem Telefoninterview mit der Nachrichtenagentur dpa sagt er: „Ich erwarte, dass der Annan-Friedensplan umgesetzt wird. Mit Waffengewalt wird das Regime nicht gestürzt werden, im Gegenteil, der bewaffnete Kampf verlängert sein Leben sogar noch.“
Er sei immer noch gegen eine ausländische Militärintervention, betont Hussein, der zu den wenigen bekannten Regimekritikern gehört, die das Land noch nicht verlassen haben. Von dem Optimismus, mit dem er noch vor einem Jahr eine vom Regime geduldete Oppositionskonferenz organisiert hatte, ist allerdings nicht mehr viel übrig geblieben: „Wir erleben hier jetzt einen bewaffneten Konflikt, der zu einem umfassenden Bürgerkrieg führen wird, wie wir ihn in Zentralsyrien jetzt schon erleben.“