Analyse: Der Machtkampf nach dem Machtkampf beginnt
Kiew (dpa) - Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch sieht sich die bisherige Opposition fast am Ziel. Doch die Bewegung um Julia Timoschenko könnte sich zu früh freuen. Die ersten fordern einen kompletten Neustart mit unverbrauchten Gesichtern.
Noch immer stehen die Barrikaden rund um den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Tausende sind bei Sonnenschein im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt unterwegs. Einerseits herrscht Erleichterung, dass die oft als autokratisch empfundene Herrschaft des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch beendet ist. Andererseits ist die Trauer über die beinahe 100 Opfer der blutigen Straßenkämpfe noch immer gewaltig. Überall in der Innenstadt liegen rote Nelken zum Gedenken an die Opfer, flackern Windlichter.
Nach der Flucht Janukowitschs und der Rückkehr der Volksikone Julia Timoschenko aus der Haft hat die Revolution ihre wichtigsten Ziele erreicht. Aber viele stört nun das kompromisslose Vorgehen der bisherigen Opposition. Nach Janukowitsch lassen die neuen Machthaber wegen „Massenmordes“ fahnden.
Übergangspräsident Alexander Turtschinow, rechte Hand Timoschenkos, peitscht im Eiltempo neue Gesetze durch die Oberste Rada. „Im Vergleich mit Ihnen war der bisherige Parlamentschef Wladimir Rybak ein Superdemokrat“, schimpft der mutmaßlich neue Oppositionsführer Sergej Tigipko, Abgeordneter von Janukowitschs Partei der Regionen.
Unmut löst auch aus, dass die Oberste Rada ein umstrittenes Gesetz abschafft, das Russisch in vielen Regionen der Ex-Sowjetrepublik zur zweiten Amtssprache macht. Der russischsprachige Osten und Süden - nach dem Sturz von Janukowitsch ohnehin seiner Identifikationsfigur beraubt - fürchtet eine Unterdrückung durch die antirussisch gestimmten Sieger des Machtkampfs. Schon mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Zusammenhalt des Landes zu bewahren. Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt vor Rachegelüsten.
Hinter den Kulissen ist längst das Gerangel um Posten und Einfluss ausgebrochen. Spannend ist vor allem die Frage, wem das künftig deutlich mächtigere Amt des Regierungschefs zufällt. Als aussichtsreicher Kandidat gilt Arseni Jazenjuk, derzeit Fraktionschef von Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina). Timoschenko selbst hat abgewinkt, sie will wohl lieber Präsidentin werden.
Gegen den Willen der 53-Jährigen dürfte kaum etwas geschehen, meinen Beobachter in Kiew. Dabei ist die einstige Unternehmerin mit gewaltigem Privatvermögen unter den Demonstranten, die weiter auf dem Maidan ausharren, selbst umstritten. Schon fürchten viele eine Wiederholung von 2004, als die neuen Machthaber nach der demokratischen Orangenen Revolution die Interessen ihrer Unterstützer missachteten - und damit Janukowitsch den Weg ins Präsidentenamt ebneten.
„Es sieht so aus, als ob sich eine Regierung des nationalen Misstrauens bildet“, schreibt Popstar Ruslana in einem Blog. „Alles hinter den Kulissen. Erneut Populisten anstelle von Profis.“ Schon fordern die ersten ein totales Politikverbot für Timoschenko und einen kompletten Neustart mit unverbrauchten Gesichtern.
Eine wichtige Rolle sollen künftig auch die Vertreter des Protestlagers auf dem Maidan spielen, auch Timoschenko fordert die Aufnahme dieser Vertreter in eine neue Regierung. Vor allem die radikale Gruppe Rechter Sektor, die an den Barrikadenkämpfen an vorderster Front beteiligt war und gewaltigen Zulauf erlebt, weiß um ihren Einfluss und droht: „Die Revolution fängt erst an.“
Eine Einbindung radikaler antirussischer Kräfte aber - wenn sie denn selbst überhaupt zur Verantwortung bereit sind - könnte nicht nur den Osten und Süden noch mehr vor den Kopf stoßen. Der wichtige Nachbar Russland warnt seit Wochen vor genau diesem Szenario. „Falls sich Leute, die in schwarzen Masken und mit Kalaschnikow-Sturmgewehren durch Kiew schlendern, als Regierung bezeichnen, so wird die Arbeit mit einem solchen Kabinett sehr schwierig sein“, sagt Regierungschef Dmitri Medwedew. Das offen russlandkritische Vorgehen und der klare Westkurs der neuen Führung stoßen im Kreml auf Misstrauen.
Schließlich bereitet die katastrophale Wirtschaftslage vielen Angst. Der kommissarische Vizeregierungschef Alexander Wilkul ordnet an, alle Zahlungen aus dem Staatshaushalt bis auf Löhne und Gehälter vorerst einzustellen. Es gelte, „nicht zielgerichtete Ausgaben zu verhindern“. Schon gibt es Berichte, dass sich die Kiewer mit Vorräten eindecken und es zu Hamsterkäufen von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs kommt.