Analyse: Die Angst vor dem Mega-Handel

Berlin (dpa) - Es ist ein Satz, den man sich immer wieder auf der Zunge zergehen lassen kann, ausgesprochen von Sigmar Gabriel: „Vielleicht ist die Debatte in Deutschland manchmal schwieriger als in anderen Ländern, weil wir ein Land sind, das reich und hysterisch ist“, sagt der SPD-Chef.

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Der Vizekanzler meinte den Widerstand gegen die geplanten großen Handelsabkommen Europas mit den USA (TTIP) und Kanada (Ceta), der nirgendwo auf dem Kontinent so stark ist wie in Deutschland. An diesem Samstag erwarten die Veranstalter einer „Stopp TTIP & Ceta“-Demonstration in Berlin mehr als 50 000 Teilnehmer. Sind die alle reich und hysterisch?

Die These des Gabriels hat in dieser Woche neue Aktualität bekommen. Weil die USA mit elf Pazifik-Staaten nach langen Verhandlungen das Freihandelsabkommen TPP abgeschlossen haben, glauben viele Fachleute, Europa müsse bei TTIP jetzt rasch Nägel mit Köpfen machen.

Der in Berlin lebende US-Autor Eric T. Hansen ist skeptisch, ob die Europäer den Schuss (noch) hören. Mit TPP, das jetzt 40 Prozent des Welthandels abdeckt, hätten die USA und ihre Pazifik-Partner die Abschaffung Europas eingeleitet: „Euer Ende ist nah“, schreibt Hansen in einem Beitrag für „Zeit Online“.

In den Vereinigten Staaten und in Asien seien die Leute heiß auf coole Innovationen. In Europa dominiere hingegen die Angst vor Neuem. „Während der Rest der Welt an Internet, Google und künstlicher Intelligenz arbeitet, perfektioniert Deutschland seine Küchengeräte“, spottet Hansen.

Der Befund dürfte nicht ganz falsch sein. Aber die Flüchtlingskrise zeigt, dass viele Deutsche aufwachen und merken, dass die Globalisierung ruckzuck ihren Alltag umkrempeln kann. Und wer gegen das TTIP-Abkommen ist, ist nicht gleich ein Fortschrittsfeind.

Über drei Millionen Unterschriften hat eine europäische Bürgerinitiative gesammelt. Und am Samstag werden in Berlin nicht nur Verbraucherschützer und Globalisierungskritiker auf die Straße gehen, sondern auch die großen Einzelgewerkschaften und der DGB. Sie eint die Sorge, dass die europäische und amerikanische Wirtschaftslobby Politiker und Bürger der EU über den Tisch ziehen könnten, oder dass der Verbraucherschutz verwässert wird. Aber: Der VW-Abgasskandal wurde beispielsweise nicht in Deutschland oder in Europa, sondern in den USA ruchbar.

Der Anti-TTIP-Einsatz der Gewerkschaften ist besonders interessant, weil Gabriel im Herbst 2014 gemeinsam mit DGB-Chef Reiner Hoffmann ein Papier veröffentlichte, mit dem Gewerkschaften und SPD Seite an Seite rote Linien für TTIP zum Schutz von Verbrauchern, Arbeitnehmern, Kommunen und Parlamenten zogen.

Jetzt wird auch die SPD-Linke wieder munter. Sie pocht auf Nachverhandlungen beim fertigen EU-Handelsabkommen Ceta mit Kanada, das als Blaupause für TTIP gilt. „Es kann nicht sein, dass das Abkommen genau die privaten Schiedsgerichte enthält, die die EU-Kommission bei TTIP bereits verworfen hat“, sagt der Chef der SPD-Linken im Bundestag, Matthias Miersch.

Der neue Vorschlag der Kommission zum Investitionsschutz müsse für alle Abkommen gelten: „Sonst ist er das Papier nicht wert, auf dem er steht“, so Miersch. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström will bei TTIP das alten System von privaten, geheimen Schiedsgerichten abschaffen, wo Konzerne hinter den Kulissen Staaten auf Schadenersatz verklagen können.

Künftig soll ein neuer europäisch-amerikanischer Handelsgerichtshof Streitfälle mit Konzernen lösen. Ob sich das Modell noch in den zwischen EU und Kanada fertig ausgehandelten Ceta-Vertrag einbauen lässt, ist ungewiss. Am 19. Oktober wählen die Kanadier ein neues Parlament.

Für Gabriel ist die Ausgangslage schwierig. Scheitern die Abkommen, steigt die deutsche Exportindustrie dem Wirtschaftsminister aufs Dach. Kriegen die Konzerne zu viele Rechte, werden Parteilinke und Gewerkschaften mit ihm abrechnen. Oder alles geht gut - und Gabriels „reiche und hysterische“ Mitbürger machen ihren Frieden mit dem Welthandel.