Analyse: Die große Mehrheit geht mit Stolz wählen
Bengasi/Tripolis (dpa) - Samira bin Ghasi stand am Samstagmorgen früh auf, zog ihre beste Kleidung an und machte sich auf den Weg: Sie wollte schnell zu ihrem Wahllokal in der ostlibyschen Stadt Bengasi, um dort an den ersten freien Wahlen des Landes seit etwa einem halben Jahrhundert teilzunehmen.
„Ich hätte diesen Augenblick um nichts in der Welt versäumt“, sagt die 53 Jahre alte Lehrerin, nachdem sie ihre Stimme zur Wahl des Allgemeine Nationalkongresses abgegeben hat.
In den Wochen vor der Wahl gab es im Osten des Lande auch Kritik an der Übergangsregierung. Manche fordern die Rückkehr zum föderalen System der Vor-Gaddafi-Zeit. „Die haben wohl den Verstand verloren“, sagt Bin Ghasi hingegen verärgert. „Das wird nie geschehen.“ Wenn man das Land jetzt zerteilen wolle, dann hätte man Gaddafi ja gar nicht erst absetzen müssen, sagt sie. Doch ihr Ärger verfliegt, als sie im Wahllokal eine Freundin trifft. Beide stoßen schrille Freudentriller aus, wie man sie sonst auf libyschen Hochzeiten hört.
Auch in der Hauptstadt Tripolis überwiegt die Freude darüber, endlich die Wahl zu haben. Trotz der brütenden Hitze versammeln sich die Menschen auf dem Märtyrerplatz, um zu feiern. Hier hatten sich die Demonstranten zu Beginn der Revolution oft versammelt, um gegen den damaligen Machthaber Muammar al-Gaddafi zu protestieren. Vor den Wahllokalen bilden sich lange Schlangen, einige Wähler warten 90 Minuten, um endlich ihre Stimme abzugeben. Danach zeigen viele stolz den tintengefärbten Finger, der zeigt, dass sie bereits gewählt haben.
Die Föderalisten in Bengasi protestierten währenddessen weiter gegen die aus ihrer Sicht zu geringe Zahl der Parlamentssitze für die östliche Provinz Cyrenaica und forderten mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung in der Hauptstadt. Landesweit sind sie eine kleine Minderheit, und auch im Osten fällt es ihnen schwer, die Menschen zum Wahlboykott zu überreden. Dennoch machte die Übergangsregierung noch am Donnerstag überraschend Zugeständnisse, um die Demonstranten in Cyrenaica zu besänftigen. Nicht der Allgemeine Nationalkongress soll nun die Mitglieder des Rates bestimmen, der die neue Verfassung ausarbeitet. Diese sollen stattdessen direkt vom Volk gewählt werden.
Nadschi al-Dinali aus Bengasi nahm dennoch an weiteren Protesten gegen die Übergangsregierung teil. „Ich werde nicht wählen gehen, und wir werden eine weitere Revolution erleben, die sich gegen die Marginalisierung der östlichen Städte richtet.“ Am Freitag hatte Al-Dinali an einem Sit-In teilgenommen, bei dem die Demonstranten dazu aufforderten, die Wahlbenachrichtigungen wegzuwerfen und die Wahl zu boykottieren. Und die Sache ist ihm ernst: „Wir sind friedliche Demonstranten“, sagt er. „Aber wenn sie auf uns schießen ... Naja, wir haben auch Gewehre, verstehst Du?“
Doch die Mehrheit der Menschen in Bengasi feiert das neue Recht zur Wahl, darunter der 26-jährige Siradsch al-Schaichi. Er zeigt den tintenverfärbten Finger und sagt: „Ich bin hierhin gekommen, um mein Recht zu wählen auszuüben und um am demokratischen Prozess teilzunehmen. Ein halbes Jahrhundert lang war uns das nicht erlaubt.“ Viele der Neuwähler schwenken die Landesflagge und machen das „Victory“-Zeichen. Die 53-jährige Jasmin Mofta fasst beim Betreten des Wahllokals in Worte, was die meisten denken: „Zum Wohle Libyens!“