Analyse: Die großen Fragen im Mordfall Buback bleiben offen
Stuttgart (dpa) - Es ist wahrscheinlich der letzte große Prozess gegen ein ehemaliges Mitglied der „Rote Armee Fraktion“. An 96 Tagen verhandelte das Oberlandesgericht Stuttgart gegen Verena Becker, 165 Zeugen und 8 Sachverständige wurden gehört, 25 000 Seiten umfassen die Akten.
Doch am Ende, sagte der Vorsitzende Richter Hermann Wieland bei der Urteilsverkündung, konnte das Verfahren den hohen Erwartungen „nur zum Teil genügen“.
Vier Jahre Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mordanschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback - so lautet das Urteil des Staatsschutzsenats gegen Verena Becker. Die Angeklagte verfolgte die fast dreistündige Urteilsverkündung - soweit von den Zuschauerplätzen erkennbar - aufmerksam und ohne sichtbare Regung.
Ob die 59-Jährige tatsächlich nochmals ins Gefängnis muss, ließen die Richter offen: Zweieinhalb Jahre sollen aufgrund von Beckers früherer Verurteilung bereits als verbüßt gelten; dazu sind vier Monate Untersuchungshaft abzuziehen. Da eine Entlassung in der Regel nach zwei Dritteln der Haftzeit möglich ist, und unter besonderen Umständen sogar bereits nach der Hälfte, könnte der ehemaligen Terroristin ein erneuter Gefängnisaufenthalt erspart bleiben. Das hätte aber erst das Vollstreckungsgericht zu entscheiden. Beckers Anwälte ließen offen, ob sie gegen das Urteil Revision einlegen werden.
Sichtlich enttäuscht war der Nebenkläger Michael Buback. Ihn hatte nur eines interessiert: Wer auf dem Motorrad saß, von dem aus sein Vater und dessen zwei Begleiter am 7. April 1977 erschossen wurden. „Wir haben bis zuletzt gehofft, dass der Senat in der Lage ist, hier eine klärende Antwort zu geben“, sagte Buback nach der Urteilsverkündung. Diese Frage konnte jedoch das Gericht nicht beantworten. Die Frage nach der „historischen Wahrheit“ müsse in einem Strafverfahren manchmal zurückbleiben, sagte Wieland.
Michael Buback hatte noch in seinem Plädoyer die These vertreten, dass Verena Becker die Schützin auf dem Motorrad war. Er glaubt, dass sie bei den Ermittlungen geschützt wurde, weil sie mit Geheimdiensten zusammengearbeitet habe. Der Senat wischte diese Theorie beiseite. Es habe keine Anhaltspunkte für Manipulationen gegeben, betonte Richter Wieland. Wer so etwas behaupte, leide unter einem „Tunnelblick“.
Nach der Urteilsverkündung rang Buback sichtlich um Fassung. „Wir haben zur Kenntnis genommen, dass es dem Gericht in 21 Monaten nicht gelungen ist, der Aufklärungspflicht nachzukommen.“ Nun müsse die Bundesanwaltschaft weiter ermitteln, wer die Täter auf dem Motorrad waren. „Wir werden nachfragen.“
Allerdings stellte der Senat erstmals gewissermaßen amtlich fest, dass Verena Becker Informantin des Verfassungsschutzes war - allerdings erst während der Haft Anfang der 80er Jahre, also lange nach dem Attentat auf Buback. Im Rahmen der „umfangreichen Gespräche“ habe sie Informationen über die RAF geliefert, sagte Wieland. Dies sei strafmildernd zu berücksichtigen. Ob er Becker damit einen Gefallen tat? In RAF-Kreisen soll sie wegen ihrer Aussagen als Verräterin gelten. Es fiel auf, dass es während des Prozesses keinerlei sichtbare Unterstützung aus Sympathisantenkreisen gab - im Gegensatz zu ihren alten Mitkämpfern, die als Zeugen aussagten.
Zufrieden sein konnte allenfalls die Bundesanwaltschaft. Das Gericht folgte in weiten Teilen der Argumentation der Anklage: Becker habe sich auf einem Treffen der RAF-Gruppe „vehement“ dafür eingesetzt, das Attentat so schnell wie möglich auszuführen. Dadurch habe sie die Täter in ihrem Tatentschluss bestärkt. Deshalb habe sie Beihilfe geleistet.
Und die Hoffnung auf die historische Wahrheit? Aufklärung könnte wohl nur von denen kommen, die wissen, wer dabei war - den zentralen Figuren der zweiten RAF-Generation, die sich fast alle vor Gericht hinter dem Recht auf Auskunftsverweigerung verschanzten.
„Wenn es ein Angebot von Seiten des Staates gäbe: Straffreiheit gegen Geständnis - manche würden es sich ernsthaft überlegen, ein solches Angebot anzunehmen“, meint „Spiegel“-Autor Michael Sontheimer, der die Geschichte der RAF und ihre Protagonisten so gut kennt wie wenige. „Ich halte es für möglich, dass der eine oder andere doch noch auspackt. Wie das in den Leuten arbeitet, sieht man ja auch an Verena Becker, beispielsweise an ihren Notizen. Viele sind in irgendeiner Weise krank geworden. Wenn man bei so einer Mordtruppe ist, hinterlässt das Spuren.“