Analyse: Ein Kraftakt für alle
Berlin (dpa) - Es sind die Schutzwürdigsten. Kinder. Sie fliehen vor Bürgerkrieg und Terror. Oft allein. Sie kommen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea oder Somalia. Nach Deutschland.
Es werden immer mehr. Denn die Lage in den Krisenregionen der Welt verschärft sich.
Rund ein Drittel aller Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen, sind Kinder, viele ohne Eltern. Sie sind traumatisiert, voller Angst, können kein Deutsch. Sie unterzubringen, zu betreuen, zu unterrichten stellt besonders Kommunen und Schulen vor völlig neue Herausforderungen. Finanziell und personell.
Bis zum Jahresende rechnen die Behörden mit mindestens 450 000 Asylanträgen, darunter unbegleitete Minderjährige. Ende Mai waren es bundesweit fast 22 100 - 23 Prozent mehr als zu Jahresbeginn. Ihnen sichert die UN-Konvention über die Kinderrechte besonderen Schutz zu. Es wird teuer. Nach einer Faustformel kostet die Versorgung eines erwachsenen Asylbewerbers etwa 1300 Euro im Monat. Alleinstehende Kinder und Jugendliche werden nach dem Jugendhilferecht betreut: Das erfordert 4000 Euro monatlich.
Die finanzielle Lage vieler Kommunen ist ohnehin prekär. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, fordert Bund und Länder auf, „die Kosten, die mit der Versorgung und besonderen Betreuung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger verbunden sind, den Jugendämtern vollständig zu erstatten“.
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnt, die Kommunen dürften mit der Aufgabe nicht alleingelassen werden. „Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung aller Ebenen der Politik“, appelliert die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Sie fordert das Recht auf Bildung für alle Schüler von Anfang an, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
In allen Bundesländern besteht laut Kultusministerkonferenz (KMK) generell das Recht von Flüchtlingskindern auf Schulbesuch. In etlichen Ländern herrscht für sie auch Schulpflicht, so in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Niedersachsen oder Sachsen. Doch es fehlt an fachlichem Personal: an Dolmetschern, an Lehrern für Deutsch als Zweitsprache, an Psychologen, Sozialarbeitern, Vormündern.
In Bayern, das besonders vom Flüchtlingszuwachs betroffen ist, haben jetzt die Lehrerverbände vom Kultusministerium eine Task-Force aus Fachkräften gefordert. Diese sollen schnell und unkompliziert aushelfen können. „Wir brauchen vor allem mehr Personal, das auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder eingehen kann“, sagt eine Verbandssprecherin. Und mehr Mittel. Der Bildungsetat sei bereits jetzt unterfinanziert.
Manche Flüchtlingskinder haben noch nie eine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. In Deutschland gehen sie erstmal wie andere Kinder ohne Deutschkenntnisse in Kurse oder Sprachklassen, um sich die fremde Sprache anzueignen. Doch Länder wie etwa Baden-Württemberg haben große Probleme damit, Lehrkräfte für die Sprachförderung zu finden.
Nordrhein-Westfalen nimmt hier eine gute Position ein: Das Land hat bereits 2009 in der Lehrerausbildung ein Pflichtmodul „Deutsch als Zweitsprache“ eingeführt. GEW-Chefin Tepe verlangt für alle Länder: „Es muss eine enorme Anstrengung zur weiteren Qualifizierung von Lehrkräften und anderem pädagogischen Personal unternommen werden.“
Manche Jugendämter wie in München oder Berlin, wo besonders viele unbegleitete Minderjährige ankommen, sind so überlastet, dass eine vernünftige Versorgung kaum mehr möglich ist. Vom nächsten Jahr an sollen die jungen Flüchtlinge im gesamten Bundesgebiet verteilt werden. Doch auch das wird kritisiert. So bezweifeln Sozialarbeiter und Pädagogen, ob es in kleineren Gemeinden die nötigen Strukturen gibt, um das Kindeswohl zu sichern. Viele Jugendämter hatten noch nie mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu tun.
Kindeswohl bedeutet laut UN-Konvention: Recht auf medizinische Versorgung, Bildung, Ernährung und Kleidung, Wohnung, Schutz vor körperlicher oder seelischer Gewalt sowie Anspruch auf kindgerechte Information. Bereits im Vorjahr hatte das UN-Kinderhilfswerk Unicef Deutschland vorgeworfen, Flüchtlingskinder zu benachteiligen. Das Kindeswohl stehe nicht an erster Stelle. Und die Situation habe sich seit Fertigstellung der Studie weiter verschlechtert.
Gerade erst unter großen Risiken aus der gefährlichen Heimat geflüchtet, erfahren manche Flüchtlingskinder nun Ablehnung oder Angriffe in ihrem Zufluchtsland. Andere wiederum erleben Hilfsbereitschaft. Die will das Bundesfamilienministerium fördern. Mit dem Programm „Willkommen bei Freunden“ und 12 Millionen Euro. Damit sollen Bündnisse aus Behörden, Vereinen, Bildungs- und Flüchtlingseinrichtungen geschaffen werden. Sechs regionale Servicebüros sollen entstehen: Anlaufstellen für jene, die helfen wollen, aber nicht wissen wie.