Analyse: Ende der Toleranz

Istanbul (dpa) - Es ist eine Wende um 180 Grad in der türkischen Syrien-Politik. Das Nato-Land gehört zwar schon lange dem US-geführten Bündnis gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an, griff aber bisher nicht militärisch in den Konflikt im Nachbarland Syrien ein.

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Nun kam die Kampfansage an den IS: In der Nacht zum Freitag bombardierten türkische Jets Stellungen der Terrormiliz in Syrien. Zudem öffnete Ankara den südtürkischen Nato-Stützpunkt Incirlik für US-Luftschläge gegen den IS. Dazu kamen Razzien gegen die Extremisten.

Die islamisch-konservative AKP-Regierung hatte die Terrormiliz an ihrer Grenze lange toleriert. Die kurdische Opposition warf der AKP sogar Unterstützung der Extremisten vor, was Ankara immer bestritt. Die Kalkulation der Türkei war, dass IS-Milizen auch den syrischen Machthaber Baschar al-Assad schwächen würden. Eine Rechnung, die bisher nicht aufging.

Die sunnitische Türkei betreibt den Sturz Assads und seines alawitischen Regimes. Seit Anfang des Bürgerkriegs in Syrien 2011 unterstützt sie die sunnitischen Rebellen. Die türkische Regierung sah die sunnitische Terrormiliz IS lange auch als Gegengewicht zu den kurdischen Milizen (YPG) in Syrien. Die YPG kontrolliert inzwischen den größten Teil der Grenze zur Türkei und steht der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe. Die Türkei, die Europäische Union und die USA stufen die PKK als Terrororganisation ein. Ankara befürchtet, dass militärische Erfolge der Kurden im Irak und in Syrien der Idee eines unabhängigen Kurdenstaates unter Einbeziehung der kurdisch besiedelten Teile der Türkei neuen Auftrieb geben könnten.

Der Tod eines türkischen Soldaten bei Gefechten mit IS-Kämpfern an der Grenze löste die Bombardements am Freitag aus. Und Regierungschef Ahmet Davutoglu machte am Freitag klar, dass sein Land weiter entschlossen gegen Extremisten vorgehen werde: „Die Türkei wird gegen jede auch nur kleinste bedrohliche Bewegung aufs Härteste reagieren“, sagte er.

Ein Grund für den Sinneswandel ist sicher der Selbstmordanschlag in Suruc mit 32 Todesopfern am Montag. Die türkische Regierung machte den IS dafür verantwortlich. Die Terrormiliz dagegen bestätigte das nicht. Es wäre nicht der erste IS-Anschlag in der Türkei, jedoch der verheerendste.

Über die Motive der Extremisten, die Türkei zu attackieren, lässt sich nur spekulieren. Die wahrscheinlichste Variante: Mit dem Anschlag im südtürkischen Suruc wollte der IS die Spannungen zwischen der türkischen Regierung und den Kurden weiter anfachen. Suruc wird von der Kurdenpartei HDP regiert. Das Ziel des Anschlags waren Jugendliche aus dem ganzen Land, die beim Aufbau der syrisch-kurdischen Stadt Kobane helfen wollten. Von dort war der IS unter verlustreichen Kämpfen von kurdischen Kämpfern und mit Hilfe der US-Luftwaffe vertrieben worden.

Zugleich könnte das Attentat eine Warnung an Ankara gewesen sein, dass jeder Schlag der Türkei gegen den IS vergolten wird und die Regierung sich gefälligst zurückhalten sollte. Schon in den letzten Wochen hatte es erste Hinweise auf einen Strategiewechsel Ankaras gegeben. Die türkische Polizei war vermehrt gegen mutmaßliche IS-Anhänger vorgegangen.

Die türkische Regierung scheint verstanden zu haben, dass sie gegen Anschläge nicht mehr gefeit ist. Sollten sich Medienberichte bestätigen, war der Selbstmordattentäter von Suruc türkischer Staatsbürger. Die Türkei hätte also auch ein Extremismusproblem im eigenen Land. Eine instabile Lage könnte sich früher oder später auf die Wirtschaft auswirken.

Die Öffnung des Stützpunktes Incirlik für US-Luftschläge hilft auch der Türkei, nun effektiver gegen den IS vorzugehen. In Washington kursieren angeblich Planspiele, mit Hilfe türkischer Truppen im Norden Syriens eine sichere Zone für Rebellen zu errichten. Allerdings gibt es in Syrien nur noch wenige gemäßigte bewaffnete Gruppen, denen die USA überhaupt vertrauen.

Bei aller Entschlossenheit, die die türkische Regierung nun gegen den IS demonstriert, macht sie jedoch auch klar, dass sie die PKK und ihr nahestehende Gruppen nach wie vor für mindestens ebenso bedrohlich hält. Die Großrazzia am Freitag war nicht nur gegen mutmaßliche Anhänger des IS gerichtet, sondern auch gegen die PKK. Die Organisation hatte am Donnerstag nach eigenen Angaben zwei Polizisten in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir umgebracht.