Analyse: EU und Nato hoffen auf Vernunft
Brüssel (dpa) - Wer hat Interesse an einer zerbröckelnden Ukraine? An einem Bürgerkrieg? Niemand - hoffen die Politiker von EU und Nato. Dennoch verfolgen sie die Entwicklung in der Ukraine mit großer Spannung.
Die Sorge ist groß. Die Revolution in der Ukraine betrifft die Europäische Union und die Nato gleichermaßen. Die Aufforderung, die Nerven zu behalten und die Krise „cool und weise“ - so US-Verteidigungsminister Chuck Hagel in Brüssel - zu managen, ist stets nicht nur an die Ukraine und Russland, sondern auch an Europa und das Nordatlantische Bündnis selbst gerichtet.
Es geht um zwei eng miteinander verbundene Fragen. Erstens: Wie kann die innenpolitische, vor allem aber wirtschaftliche und soziale Lage der Ukraine stabilisiert werden? Zweitens: Wie verhält sich Russland und welche Folgen hat das für die internationale Sicherheit?
Mit Hochdruck arbeitet die EU derzeit an einem Hilfspaket für die Ukraine. Zwar ist nach Angaben von Diplomaten unklar, wie nah das Land dem Staatsbankrott schon gekommen ist - nah ist er auf jeden Fall. Zumindest eine Übergangsfinanzierung in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar gilt als dringlich, möglicherweise unter Mitwirkung des Internationalen Währungsfonds.
Später wird die Ukraine noch sehr viel mehr Geld brauchen. In Moskau nicht bezahlte Gas-Rechnungen könnten schlimme wirtschaftliche und soziale Folgen haben, auch wenn das Gas wegen der Diversifizierung von Energiequellen keine Moskauer Allzweckwaffe mehr ist.
Kiews EU-Botschafter Konstantin Jelissejew hat wissen lassen, die Ukraine wolle das im November von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch auf Eis gelegte Assoziierungsabkommen mit der EU schon im März unterzeichnen. Die EU-Kommission meint, das sei eine Entscheidung des ukrainischen Parlaments. Eine rasche Unterzeichnung wäre ein Zeichen der Ermutigung an die proeuropäischen Kräfte in der Ukraine. Aber sie könnte den Dialog mit Moskau erschweren. Und Russland hatte bereits auf Janukowitsch erheblichen Druck ausgeübt, um das Abkommen zu verhindern.
Die möglichen Gefahren für die internationale Sicherheit treiben vor allem die Nato um. Bei einem Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel habe es wegen des Sturzes von Janukowitsch „kein Triumphgeheul“ gegeben, heißt es von Teilnehmern. Im Gegenteil: „Ich fordere alle Seiten auf, auf Konfrontation und Provokationen zu verzichten und sich wieder auf den Weg des Dialogs zu begeben“, war die Botschaft von Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen.
Die Nato geht in ihren bisherigen Analysen der Lage davon aus, dass Instabilität der Ukraine ebenso wenig im russischen Interesse liegt wie eine Spaltung des Landes in einen östlichen und westlichen Teil. Auch Dmitri Trenin von der Denkfabrik Carnegie in Moskau meint, dass Präsident Wladimir Putin „keinen Bürgerkrieg vor seiner Haustür“ wolle. Zudem wisse auch Putin, dass das sehr Nato-freundliche und bestens ausgebildete ukrainische Militär nicht mit den Truppen Georgiens vergleichbar ist.
Denn viele Nato-Diplomaten fühlen sich durch das Agieren Russlands auf der mehrheitlich von Russen bewohnten Krim an Russlands Einmarsch in Georgien 2008 erinnert: Damals rückten russische Truppen durch Abchasien und Südossetien, international als zu Georgien gehörend anerkannt, ins georgische Kernland vor - unter anderem mit der Begründung, die Menschenrechte russischer Staatsbürger seien bedroht.
Im Georgienkonflikt ist sowohl der Nato als auch der EU klar geworden, dass ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf Moskau begrenzt sind. Die Ukraine gehört ebenso wenig wie Georgien zur Nato - eine militärische Beistandspflicht des Bündnisses gibt es daher nicht. Eine militärische Konfrontation mit Russland war - und ist - keine Option. Auch ein Einfrieren der Beziehungen zu Russland haben EU und Nato nur kurz durchgehalten.
Eingedenk dieser Erfahrungen setzen EU und Nato auf politische und vor allem wirtschaftliche Vernunft: Die Ukraine sei noch viele Jahre eine wirtschaftliche Bürde - vor allem für den Fall einer Spaltung. Dies, so Trenin, sei ein guter Grund für Putin, sich auf kein ukrainisches Abenteuer einzulassen. Eine prosperierende Ukraine könne hingegen nicht nur für die EU, sondern vor allem auch für Russland interessant sein. Das aber sei nicht mit Panzern zu erreichen.