Analyse: Freie Fahrt für S21 - Kretschmann gefragt

Stuttgart (dpa) - Baden-Württemberg hat das Signal für das Milliarden-Projekt Stuttgart 21 auf Grün gestellt. Mit 58,8 Prozent der Stimmen zieht das Land einen Schlussstrich unter den jahrelangen Kampf um den geplanten Umbau des bisherigen Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation.

Ob sich die Hoffnung auf „Frieden in Stuttgart“ erfüllt, ist aber noch unklar. Sicher ist nur, dass die Bahn nun mit Volldampf weiterbauen wird, um nach mehreren Baustopps ihren Fahrplan noch halbwegs einhalten zu können und das Vorhaben unumkehrbar zu machen. Die Bahn habe das Baurecht, und das müsse gewährleistet werden, bekräftigte auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Sonntagabend.

Als nächste brisante Etappe der Bauarbeiten steht im Januar der Abriss des Kopfbahnhof-Südflügels bevor. Die Aktivisten der Parkschützer befürchten, dass zeitgleich auch Baumverpflanzungen und -fällungen angesetzt werden.

Das emotionale Thema Baumrodung hatte am „schwarzen Donnerstag“ Ende September 2010 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Stuttgart-21-Gegnern und der Polizei mit vielen Verletzten geführt. Der Sprecher der „Parkschützer“, Matthias von Herrmann, kündigte am Sonntag an: „Wir stellen unsere Aktivitäten erst ein, wenn Stuttgart 21 beendet ist.“ Im Ernstfall müsste Grün-Rot die Arbeiten mit Hilfe der Polizei schützen.

Nach einer Umfrage rechnen 81 Prozent der Baden-Württemberger nicht damit, dass das Referendum den Streit beilegt. 95 Prozent geben allerdings an, dass sie das Ergebnis akzeptieren. 4 Prozent im gesamten Land und 7 Prozent in der Stadt Stuttgart wollen ein Ergebnis, das ihnen missfällt, auch nicht schlucken.

Damit wäre die Bahn womöglich über rund zehn Jahre Bauzeit dem Widerstand eines kleinen, aber harten Kerns ausgesetzt. Das Anbohren der Röhren des Grundwassermanagements für den Tiefbahnhof gab kürzlich einen Vorgeschmack darauf, wie das Projekt auch durch „Nadelstiche“ immer wieder lahmgelegt werden könnte.

Von der Autorität und Integrationskraft des Regierungschefs Kretschmann könnte abhängen, wie sich die Stimmung im Land nun entwickelt. Zustimmungswerte bei Umfragen von 58 Prozent - und damit weit über die eigene Klientel hinaus - sichern dem ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands eine Position, aus der heraus er die gespaltene Bürgerschaft wieder einen kann.

Auch in das eigene Kabinett muss Kretschmann wirken und seinen nach der Schlappe beschädigten Verkehrsminister, den S21-Gegner Winfried Hermann (Grüne), auf Linie bringen. Würde Grün-Rot jetzt das Baurecht der Bahn und den Weiterbau nicht durchsetzen, wäre das nach Einschätzung von Beobachtern politischer Selbstmord.

Gelassen zurücklehnen kann sich dagegen der Juniorpartner der Grünen: Die S21-freundliche SPD mit ihren Frontmännern Claus Schmiedel und Nils Schmid kann den Ausgang des Referendums als Erfolg verbuchen. Finanzminister Schmid gilt als Urheber der Volksabstimmung über das derzeit auf 4,1 Milliarden Euro kalkulierte Vorhaben.

Doch was passiert, wenn während der Bauzeit die Kostengrenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten wird? In diesem Fall pocht die Bahn auf die vertraglich verankerte Sprechklausel. Dann müssten sich alle Projektpartner zusammensetzen und darüber sprechen, wer die Zusatzkosten trägt, auf denen die Bahn nicht allein sitzen bleiben will. Doch das Land hat ebenso wie Stadt und Region Stuttgart bereits abgewunken und die Bahn aufgefordert, voll einzuspringen.

Kretschmann befürchtet, nach einigen Jahren Bauzeit mit der größten unfertigen Baugrube Europas mitten in der Landeshauptstadt doch noch gezwungen zu sein, Geld nachzuschießen. In diese „Erpressungssituation“ will er nicht kommen, betont er immer wieder. Doch richtig verhindern kann er ein solches Dilemma nicht.