Analyse: Freude wie bei einem Sommerfest

Tripolis (dpa) - Wahlen gab es unter Libyens Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi nicht, Parteien waren verboten. Trotzdem trauen sich die Libyer zu, neun Monate nach Kriegsende eine landesweite Wahl zu organisieren.

Heute ist es so weit. Internationale Beobachter sind beeindruckt von der Zielstrebigkeit, mit der die Verantwortlichen in Tripolis auf die Wahl zum Allgemeinen Nationalkongress zusteuern. Gleichzeitig warnen sie vor überzogenen Erwartungen. Denn die libysche Demokratie lernt gerade erst laufen.

Schon jetzt steht fest, dass Islamisten und Kandidaten, die von den großen Stämmen unterstützt werden, einen großen Teil der 200 Mandate abräumen werden. Gute Chancen rechnet sich auch eine nationalistische Allianz unter der Führung von Mahmud Dschibril aus. Dschibril war während des Krieges im vergangenen Jahr Mitglied des Übergangsrates und weckte mit seiner weltläufigen Art bei westlichen Diplomaten viel Sympathie für die libysche Revolution.

Abgesehen von der Frage, wie wichtig die Rolle der Religion im neuen Staat sein soll, blieb der Wahlkampf weitgehend ideologiefrei. Das liegt daran, dass die meisten Libyer Ideologien skeptisch gegenüberstehen. Denn Gaddafi war ein Ideologe par excellence. Vier Jahrzehnte lang quälte er das Volk mit einem kruden Mix aus Radikalsozialismus, Islam und philosophischem Gefasel.

„Die Jugend hat zwar der Revolution zum Erfolg verholfen, aber eine Vision hat sie leider nicht“, seufzt Ali al-Hamruni. „Diese ideologische Leere ist das Erbe des alten Regimes, das die Menschen dazu gebracht hat, nur an sich selbst zu denken.“ Al-Hamruni ist 48 Jahre alt, ehemaliger politischer Gefangener und Gründungsmitglied der Nationalen Partei für Entwicklung und Wohlfahrt. Von 1989 bis 2001 saß er ohne Urteil im berüchtigten Gefängnis Abu Slim in Tripolis. Die Zelle teilte er damals mit Nuri al-Abbar, der heute die Wahlkommission leitet.

Rachegefühle hegt der glatt rasierte, wuchtige Mann, der auch bei größter Hitze immer eine schwarze Wollkappe trägt, nicht. Er sagt: „Die Revolutionäre haben einige der Folterer von damals geschnappt. Sie haben mich eingeladen, persönlich Rache zu üben, doch ich habe das abgelehnt.“ Er ruft seine Landsleute zur Versöhnung auf.

In der Zentrale seiner Partei werden an diesem Morgen Kisten mit beigefarbenen Polohemden angeliefert. Auf der Rückseite der Hemden prangt das Foto von Al-Mabruk al-Hadi Salih, der als Unabhängiger kandidiert. „Unser Kandidat sieht so gut aus, er könnte glatt ein Fernsehstar sein“, scherzt einer der jungen Helfer, die für die Partei Botenfahrten erledigen. Auch Salih selbst ist bester Laune.

Doch die positive Energie vieler Kandidaten und die Freude der Bürger, die im Sonntagsstaat erschienen, um sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist weniger schön. Im Osten gibt es eine Gruppe, die Autonomie-Bestrebungen hegt. Ihre Anhänger haben ebenso zum Boykott der Wahl aufgerufen wie Aktivisten aus der östlichen Stadt Bengasi. Nach ihrer Ansicht stehen dem Osten mehr Sitze im Nationalkongress zu.

In der Region von Sintan, wo eine der mächtigsten Revolutionsbrigaden ihren Sitz hat, brach im Juni ein Konflikt zwischen verfeindeten Stämmen aus, der mehr als 100 Menschen das Leben kostete. In der südlichen Stadt Al-Kufra kämpfen seit Monaten immer wieder Araber gegen Afrikaner und Revolutionäre gegen Anhänger des alten Regimes. In der Oasenstadt wird wegen der anhaltenden Unruhen voraussichtlich nicht gewählt werden können.

Zwar verbietet das Wahlgesetz den Parteien, finanzielle Hilfe aus dem Ausland anzunehmen und organisatorische Bande zu ausländischen Parteien zu knüpfen. Doch durchgesetzt wird dies genauso wenig wie das Verbot, in der Moschee politische Reden zu schwingen.

Das Verbot betrifft vor allem die Partei für Gerechtigkeit und Aufbau. Sie ist aus der libyschen Muslimbruderschaft entstanden, die nach Angaben rivalisierender Parteien Kontakte zu Vertretern der Organisation in Tunesien und Ägypten unterhält. Dem islamistischen Rebellenkommandeur Abdelhakim Belhadsch und seiner Vaterlandspartei werden zudem enge Verbindungen zur Herrscherfamilie des Golfemirats Katar nachgesagt. „Seitdem ihm die Katarer PR-Strategen geschickt haben, hat Belhadsch seine Gotteskrieger-Attitüde abgelegt. Er trägt jetzt eine Brille und schüttelt Frauen die Hand“, lästert eine erst kürzlich nach Tripolis zurückgekehrte Exil-Libyerin.

Viele Experten hatten zuerst Sorge, dass es den Libyern nicht gelingen würde, nach vier Jahrzehnten Diktatur und einem blutigen Krieg innerhalb so kurzer Zeit landesweite Wahlen zu organisieren. Doch die Libyer gingen pragmatisch ans Werk. Anders als in Ägypten, wo der Oberste Militärrat und ein weit verbreiteter Nationalismus ausländische Unterstützung in der Übergangszeit verhinderten, holten sie Berater und ausländische Wahlbeobachter ins Land.

Außerdem gab es Testläufe in Misrata, Bengasi und anderen Städten, die in den vergangenen Monaten selbstständig Kommunalwahlen organisiert haben. Die Bilanz fiel positiv aus. Es blieb friedlich. Die unterlegenen Kandidaten erkannten das Wahlergebnis an. Die Carnegie-Stiftung kommt in einer aktuellen Studie zu Libyen zu dem Schluss: „Insgesamt war die Organisation dieser lokalen Wahlen eine beeindruckende Vorführung von gelebter Demokratie, unabhängig organisiert von normalen Bürgern.“