Analyse: G20-Agenda empört Hilfsorganisationen
Cannes (dpa) - Was sind die griechischen Schulden im Vergleich zur Hungerskatastrophe mit Zehntausenden Toten am Horn von Afrika? Was bedeuten ein paar Milliarden Euro Hilfszahlungen mehr oder weniger im Vergleich zu den wahrscheinlichen Folgen eines drastischen Klimawandels?
Für internationale Hilfsorganisationen und Umweltschützer ist der französische G20-Gipfel bereits vor seinem Ende eine bittere Enttäuschung. Mindestens so wichtige Probleme wie die europäische Staatsschuldenkrise bleiben ihrer Meinung nach auf der Strecke.
„Während in Cannes die Staats- und Regierungschefs über Schuldenschnitte und Hebelwirkungen diskutieren, schreitet der Klimawandel voran und Millionen Menschen sind von Hunger bedroht“, kommentiert Regine Günther von WWF Deutschland. „So groß die Gefahren der momentanen Finanzkrise sind, sie dürfen nicht alle anderen Probleme der Menschheit überlagern.“
Gute Argumente haben die Nichtregierungsorganisationen auf ihrer Seite. Nach Angaben der Vereinten Nationen hungern rund um den Globus etwa 925 Millionen Menschen. Jedes Jahr sterben schätzungsweise drei Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag an Unterernährung, allein in Somalia sollen derzeit 200 000 in einem lebensbedrohlichem Zustand sein.
„Wir denken, um dieses Problem sollten sich die G20-Führer ebenfalls kümmern“, sagt Adam Tylor vom Kinderhilfswerk World Vision. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung liege auch in den führenden Wirtschaftsnationen vieles im Argen. „44 Prozent der in der Entwicklung zurückgebliebenen Kinder leben in den G20-Staaten.“
Besonders frustrierend ist die Situation für die Organisationen, weil Lösungsansätze für die Probleme ursprünglich ganz oben auf der diesjährigen G20-Agenda standen. Zum einen war dies die Finanztraktionssteuer, zum anderen der Kampf gegen Spekulationen auf den Märkten für Grundnahrungsmittel.
„Die Einnahmen aus der internationalen Finanztransaktionssteuer könnten für die weltweite Armutsbekämpfung und den Klimaschutz eingesetzt werden und gleichzeitig die sozialen Folgen der Staatsschuldenkrise in Europa abfedern“, sagt Jörn Kalinski von der Entwicklungs- und Hilfsorganisation Oxfam. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy habe aber zuletzt wenig Hoffnungen gemacht, dass sein großes Projekt für die französische G20-Präsidentschaft in Cannes deutliche Fortschritte machen werde.
Nach jüngsten Berechnungen von Oxfam wird der weltweite Entwicklungshilfe-Etat allein bis Ende 2012 um 9,5 Milliarden US-Dollar sinken. Dies wäre der heftigste Rückgang seit 15 Jahren, analysiert die Organisation. Vor allem in Italien, den USA, Spanien und den Niederlande gebe es erhebliche Kürzungen bei den Entwicklungshilfe-Haushalten. „Lösungen für Griechenland dürfen nicht auf dem Rücken der Ärmsten dieser Welt gefunden werden“, kommentiert Samuel Worthington, Leiter der Organisation InterAction.
Beim Klimaschutz behindern nach Einschätzung von Umweltschützern vor allem milliardenschwere Subventionen für fossile Energieträger größere Fortschritte - allein 2010 waren es schätzungsweise 500 Milliarden Dollar. WWF und andere hofften bislang vergeblich auf das Engagement der G20. „Eine Klimakatastrophe wird die derzeitige Wirtschaftskrise klein aussehen lassen“, warnt Greenpeace. US-Präsident Barack Obama hat jedoch eindeutige Prioritäten. In Cannes sagte er: „Unsere wichtigste Aufgabe in den nächsten zwei Tagen ist es, die Finanzkrise in Europa zu lösen.“