Analyse: Gewaltexzesse vertiefen Spaltung in Ägypten

Kairo/Istanbul (dpa) - „Der Tapfere ist tapfer und der Feigling ist feige“, ruft der islamistische Prediger Safwat al-Hegasi von der Tribüne im Protestlager vor der Rabea-al-Adawija-Moschee in Kairo.

Dann bricht die Hölle los.

Hunderte von Demonstranten fliehen, während die Polizei Tränengas-Granaten auf das Zeltlager abfeuert. Steine prasseln wie Hagelkörner auf die schwarzen Helme der Einsatzkräfte der Ordnungspolizei.

Die ersten Schwerverletzten werden in ein Feldlazarett getragen. Die Polizei ist überrascht vom heftigen Widerstand der Islamisten, die auch Schusswaffen einsetzen. Sie erhält Unterstützung von der ägyptischen Armee, die das Geschehen in den Zeltlagern von Helikoptern aus beobachtet. Am Nachmittag gerät die Situation schließlich völlig außer Kontrolle. Der Stadtteil Nasr-City wird zum Schlachtfeld. In dem dicht bevölkerten Wohngebiet wird scharf geschossen.

In den umliegenden Straßen formieren sich währenddessen Bürgerwehren von Anwohnern, die Holzlatten tragen. Sie wollen verhindern, dass ihre Geschäfte und Wohnhäuser bei den Zusammenstößen zwischen den Islamisten und Polizisten beschädigt werden. Sechs Stunden nach Beginn des Polizeieinsatzes in Kairo hat die Polizei den Al-Nahda-Platz im Stadtteil Giza geräumt. Das Protestlager in Nasr-City ist auf einen kleinen Platz vor der Moschee zusammengeschrumpft. Hier errichten junge Männer in Windeseile neue Barrikaden aus Sandsäcken und Schrott.

In Windeseile greifen die gewaltsamen Proteste dann auf andere Landesteile über. In einigen Provinzstädten stürmen Islamisten öffentliche Gebäude. Ihre Aktionen wirken nicht spontan, sondern zentral organisiert. In Al-Arisch rücken die Islamisten sogar mit Waffen an. In Oberägypten brennen Kirchen.

Diese Sabotageakte dürften nicht dazu angetan sein, das „Märtyrer-Image“ zu stärken, das die Muslimbrüder seit der Entmachtung ihres Präsidenten Mohammed Mursi pflegen. Doch was passiert, wenn die zerfetzten Protestzelte auf den Müllhalden liegen und die Toten begraben sind?

Möglich ist, dass sich zumindest ein Teil der Islamisten wieder in den Untergrund zurückzieht und Anschläge verübt, so wie in den 90er Jahren. Die von westlichen Regierung angemahnte Versöhnung zwischen den Islamisten und den Unterstützern der Übergangsregierung erscheint im Moment unwahrscheinlicher als jemals zuvor. Und auch die Begeisterung vieler Ägypter für die Militärführung hat an diesem schwarzen Mittwoch einen Dämpfer erhalten. Als Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand ausruft, fühlen sich viele von ihnen an die Ära von Präsident Husni Mubarak erinnert.

„Wir alle müssen uns gegen die Zerstörung staatlicher Institutionen wehren“, erklärt der ehemalige Präsidentschaftskandidat Amre Mussa. Er sieht in den Muslimbrüdern Störenfriede, die nach dem Sturz Mubaraks 2011 durch geschicktes Taktieren die Ernte der jugendlichen Revolutionäre einfahren konnten.

Die moderaten Islamisten der Partei Starkes Ägypten beklagen dagegen vor allem das gewaltsame Vorgehen der Polizei. Dadurch seien „alle Bemühungen um Versöhnung zunichtegemacht worden“, kritisiert die Partei. Damit empfiehlt sich ihr Vorsitzender Abdel Moneim Abul Futuh, der bei der Präsidentenwahl 2012 ebenfalls unterlegen war, als Kompromisskandidat für die nächste Wahl. Doch diese Rechnung geht vielleicht ebenso wenig auf wie die Rechnung der Muslimbrüder, die nach Mursis Entmachtung mit ihrer Totalverweigerung alles auf eine Karte gesetzt hatten.