Analyse: Grubenunglück kann Erdogan politisch gefährden
Istanbul (dpa) - Am Ort des schwersten Unglücks in der Geschichte des türkischen Bergbaus hat nicht nur Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seinen politischen Kompass verloren.
Sein Berater Yusuf Yerkel ist auf einem Bild zu sehen, wie er auf einen Demonstranten eintritt, der schon von Uniformierten niedergerungen wurde. Immer wieder zeigen Fernsehsender am Donnerstag die Bilder des Mannes im grauen Anzug, der mit wütendem Gesicht zum Angriff übergeht.
Mit Buhrufen und Pfiffen hatte die Menschenmenge auf den Auftritt von Erdogan in der westtürkischen Bergarbeiterstadt Soma am Vortag reagiert. Während Retter Leiche um Leiche aus den Kohlenstollen bergen, spielt Erdogan das Unglück herunter und greift dabei weit in die Geschichte der Industrialisierung zurück. 1862 seien in England 204 Menschen in einem Bergwerk gestorben, 1907 in den USA „mit all der Technologie“ 361. „Solche Unfälle passieren ständig“, sagt er. Das ist blanker Hohn für die Angehörigen der Opfer.
Unfälle begleiten nicht nur den türkischen Bergbau von Anbeginn. In der Türkei sind seit 1941 nach offiziellen Angaben mehr als 3000 Bergleute ums Leben gekommen und mehr als 100 000 Arbeiter der Brache verletzt worden.
Das türkische Wirtschaftsforschungsinstitut Tepav veröffentlichte 2010 eine Statistik, wonach ein tödlicher Unfall bei der Förderung einer Tonne Kohle in der Türkei fast sechsmal wahrscheinlicher ist als in China. Im Vergleich zu den USA lag der Wert im untersuchten Zeitraum von 2000 bis 2008 noch um ein Vielfaches höher.
Gewerkschaften beschuldigen Erdogans Regierung, die Lage in den vergangenen Jahren mit der Privatisierung verschlimmert zu haben, die in der Branche zum Einsatz von „Sub- und Subsubunternehmern“ geführt habe. Etwa 280 Euro im Monat betrage umgerechnet der Einstiegslohn in der Kohlegrube Soma, sagen Arbeiter dort vor Journalisten. Die Bergarbeiter stehen auf der Schattenseite des türkischen Wirtschaftsbooms.
Der Tod der Kumpel provoziert in mehreren Städten Demonstrationen, die die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas auflöst. Die Welle der Empörung könnte Erdogan politisch gefährlich werden, denn für August sind Präsidentenwahlen angesetzt. Noch ist nicht entschieden, ob er überhaupt kandidieren wird. Nach dem Sieg von Erdogans Partei bei den Kommunwahlen schien der Weg bisher aber frei.
In Soma hat der Regierungschef, der sich gern als Mann des Volkes gibt, den richtigen Ton nicht getroffen. Sicherheitsleute müssen ihn durch eine Menge wütender Demonstranten schleusen. Die Menge skandiert: „Ministerpräsident, Rücktritt.“
Erdogans Gesicht wirkt erst erstaunt, dann wie versteinert. Seine Wachmannschaft bugsiert ihn in ein Geschäft. Auf einem Video ist mitten in einem Gerangel eine Faust zu erkennen, die aus der Richtung Erdogans kommt. Die Zeitung „Hürriyet Daily News“ fragt sogleich: „Hat der türkische Regierungschef Erdogan einem Demonstranten in Soma eine runtergehauen?“