Analyse: In Kairo stauen sich Wut und Trauer

Kairo (dpa) - Der Führerschein des Apothekers ist versengt. Vielleicht brannte er bei einem Feuer an, das in einem Protestcamp der Islamisten ausbrach. Vielleicht streifte eine Kugel den Schein, als Sicherheitskräfte das Zeltlager räumten.

Sein Besitzer kann es nicht mehr sagen. Er ist einer der mehr als 230 Toten, die in Tücher gewickelt in der Al-Iman-Moschee im Nordwesten Kairos aufgebahrt sind, damit Angehörige sie identifizieren und bestatten können.

Freiwillige erstellen Listen der Toten aus Personalausweisen, Führerscheinen und anderen Dokumenten. Unweit des Gotteshauses liegt die Raba-al-Adawija-Moschee, wo Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi wochenlang campierten und seine Rückkehr ins Amt forderten.

Die Klimaanlage der Moschee kommt kaum mit dem Kühlen nach, um die Verwesung zu verlangsamen. Auf einigen Körpern liegen Eisblöcke. Männer versprühen Lufterfrischer, um den Gestank des Todes zu überdecken. Trauernde Frauen sitzen schweigend neben den Toten. Durch viele Leichentücher sickern Blutspuren. Das Leid in der improvisierten Leichenhalle ist eine Folge des Massakers, das Kairo am Mittwoch erlebte. Schwer bewaffnete Polizisten und Militärs waren mit Bulldozern angerollt und hatten den Protest zerschlagen.

Das Vorgehen der Polizei und anschließende Attacken von Islamisten forderten bislang etwa 600 Todesopfer. Der Muslimbruderschaft zufolge liegt die Zahl mit 2600 Todesopfern viel höher. Zur Leichenhalle der Stadt, die ohnehin schon voll ist, sei es ein zu langer Weg in der Sommerhitze Kairos, sagt Anwalt Adel Adib. Er sei als Vertreter des ägyptischen Anwaltsvereins da, um die Angehörigen darin zu unterstützen, eine Bestattungserlaubnis zu bekommen, sagt er der Nachrichtenagentur dpa. Mit einem Kollegen gelang es ihm, ein Team von Gerichtsmedizinern herzubringen.

Sie nähmen die Untersuchungen an den Leichen vor und gäben sie für die Bestattung frei, sofern die Familien auf ihr Recht auf eine Obduktion verzichteten, erklärt Adib. Das schließt zwar aus, dass es jemals Ermittlungen wegen der Todesursache gibt, aber damit rechnet ohnehin niemand. „Der Märtyrer ist bereits verloren“, sagt ein älterer Mann resigniert.

Außerhalb der Moschee suchen Verwandte die Totenlisten ab. 19 Pappplakate füllen die Namen, die an den Zaun rund um die Moschee gebunden sind. Jusuf Fahmi braucht nicht draufzuschauen. Der 18-Jährige weiß schon, dass drei seiner Freunde bei der Razzia gestorben sind. Eine Sache will er klarstellen: „Nicht alle sind Muslimbrüder. Ich bin kein Muslimbruder, und drei meiner Freunde sind getötet worden. Einer von ihnen war ein Muslimbruder, die beiden anderen waren es nicht.“

Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung blickt Mohammed Ibrahim auf den Laster, der mit weiteren Eisblöcken vorfährt. „Das ist die Hilfe, die der Staat den Toten gibt“, ruft der Beamte. „Dies sind die Menschenrechte, die Barack Obama fordert.“