Analyse: Islamisten und Liberale auf Kollisionskurs

Kairo/Istanbul (dpa) - Linke Demonstranten zünden Parteibüros der Islamisten an. Anhänger der Muslimbrüder misshandeln Journalisten. Junge Anarchisten bereiten sich in Kairo auf eine neue Runde Randale vor.

Die Stimmung in Ägypten ist so aufgeheizt wie seit Monaten nicht mehr.

Die Protestbewegung will mit ihrer Welle von Demonstrationen, die am Sonntag ihren Höhepunkt erreichen soll, eine „zweite Revolution“ herbeiführen. Die regierenden Islamisten sind ihrerseits nicht bereit, etwas von der Macht abzugeben, die sie sich so mühsam erarbeitet und erkämpft haben. Ihre Gegner empfinden sie als lästige „Saboteure“, die mir ihren ständigen Demonstrationen das Wirtschaftswachstum hemmen. Der Ruf der Liberalen und Linken nach „Freiheit“ und Achtung der Menschenrechte ist für sie ein Störfeuer gegen die „islamische Renaissance“.

Im Hintergrund lauern derweil die Profiteure des alten Regimes von Präsident Husni Mubarak, der im Februar 2011 zurücktreten musste. Einige von ihnen hoffen, dass die Gewalt auf der Straße so eskalieren wird, dass die Armee einschreitet und eine neue Regierung einsetzt. Das traut sich zwar niemand laut zu sagen. Doch die Muslimbrüder wissen genau, was gespielt ist. Nicht umsonst betonte Mursi in seiner mehrstündigen Ansprache am Mittwochabend sein angeblich so gutes Verhältnis zur Armeeführung.

„Unsere Strategie ist genauso wie bei der Revolution des 25. Januar. Damals wurde so lange demonstriert, bis Mubarak verschwand, so wollen wir es jetzt auch machen. Unser Protest wird gewaltfrei sein“, erklärt Hussein Abdel Ghani (56). Vor dem Arabischen Frühling arbeitete der ägyptische Journalist als Reporter für den Nachrichtensender Al-Dschasira. Heute ist er Sprecher des Oppositionsbündnisses Nationale Rettungsfront.

Auch die revolutionäre Jugendbewegung 6. April hat keinen Plan B. „Wenn es keine Reaktion auf unsere Forderungen gibt, dann werden wir einfach weiter protestieren“, sagt Mohammed Adel, ein führendes Mitglied der Bewegung, die 2011 bei den Protesten gegen Mubarak eine tragende Rolle bei der Mobilisierung der Jugend spielte. Mit einem Militärputsch rechnet er nicht: „Die Aufgabe der Armee ist es, für Sicherheit zu sorgen, und sonst nichts.“

Die Muslimbrüder, die von einigen radikal-islamistischen Salafisten-Parteien unterstützt werden, haben jedoch in den vergangenen Tagen deutlich gemacht, dass sie sich nicht alleine auf die Polizei und die Armee verlassen wollen. Am Freitag organisierten sie zum zweiten Mal binnen einer Woche eine Solidaritätskundgebung für Präsident Mursi. Aus den Provinzen sind in den vergangenen Tagen zahlreiche Angehörige der Islamisten-Parteien nach Kairo gereist.

Das ist einerseits verständlich, weil vor allem die ägyptische Polizei in den vergangenen zwei Jahren oft versagt hat, was Menschenleben kostete und mehrfach zur Beschädigung von öffentlichem und privatem Eigentum führte. Andererseits birgt diese Strategie die Gefahr einer offenen Konfrontation zwischen den Kontrahenten.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon haben deshalb an die Ägypter appelliert, ihre Probleme auf friedlichem Wege zu lösen. Doch die Opposition in Kairo will ein Jahr nach dem Amtsantritt von Mursi keinen Dialog mehr mit den Islamisten, sondern eine vorgezogene Präsidentschaftswahl. Davor schrecken die Islamisten jedoch zurück. Denn sie wissen, dass sie in den vergangenen Monaten viel von ihrer einstigen Popularität eingebüßt haben. Außerdem verweisen sie auf die ohnehin für September geplante Parlamentswahl.

Doch von den Spielregeln der modernen Demokratie wollen sich viele Ägypter nicht beschränken lassen. Sie fühlen sich von Mursi und den Muslimbrüdern getäuscht. Denn die waren im Wahlkampf noch sehr kompromissfähig dahergekommen und gingen dann später gegen jeden vor, der sich ihrem Marsch durch die Institutionen entgegenstellte - von kritischen Journalisten bis hin zur Direktorin der Kairoer Oper.

„Tamarud“ nennt sich die neue Protestbewegung, der sich die meisten Oppositionsparteien angeschlossen haben. „Tamarud“ bedeutet „Rebellion“. Doch Rebellionen beginnen in der Regel nicht damit, dass freundlich lächelnde Jugendliche auf der Straße Unterschriften sammeln. Mehr als 20 Millionen Ägypter sollen die Zettel der „Tamarud“-Bewegung in den vergangenen Monaten ausgefüllt haben. Sie gaben ihren Namen, ihre Personalausweisnummer und ihre Heimatprovinz an.

Der an Mursi gerichtete Text, den sie unterzeichnet haben, klingt wie ein volkstümliches Gedicht: „Weil die Sicherheit nicht auf die Straßen zurückgekehrt ist, wollen wir Dich nicht. Weil es für die Armen immer noch keinen Platz gibt, wollen wir Dich nicht. Weil wir immer noch im Ausland betteln, weil es keine Gerechtigkeit für die Märtyrer gab, weil es für mich und meine Kinder kein Leben in Würde gibt, weil die Wirtschaft zusammengebrochen ist und man immer noch betteln muss, weil Du tust, was die Amerikaner wollen, deshalb wollen wir Dich nicht.“