Analyse: Israel plant Gaza-Bodenoffensive
Tel Aviv (dpa) - Bisher liefern sich Israel und die Hamas einen Kleinkrieg mit Raketen. Sollte Israels Armee nun Bodentruppen in den Gazastreifen schicken, könnte das Blutvergießen noch viel schlimmer werden.
Schon zum zweiten Mal an einem Tag heulen in Tel Aviv die Sirenen. Aufgeschreckt rennen die Menschen am Donnerstag in Schutzräume oder Treppenhäuser, in Erwartung eines neuen Raketenangriffs aus dem Gazastreifen. Kurz darauf sind im Stadtzentrum dumpfe Explosionen zu hören - die Raketenabwehr hat die Geschosse wieder in der Luft abgefangen. Berichte, zwei der Raketen seien im Bereich der Stadt eingeschlagen, sorgen aber für Aufregung.
In Israel sind Sommerferien, zu der Zeit des ersten Raketenalarms am Morgen sind viele Eltern gerade mit ihren Kindern unterwegs in die Ferienlager. Andere Menschen in der Mittelmeermetropole werden von den Sirenen aus dem Schlaf gerissen.
Die Raketenangriffe der militanten Palästinenser im Gazastreifen haben bei dieser Runde der Gewalt eine völlig neue Dimension erreicht. Immer neue Städte in Israel werden zum Ziel der Attacken aus dem blockierten Küstenstreifen - in der Summe mehr als je zuvor bei einem gewaltsamen Konflikt mit der Hamas. Auch auf den Atomreaktor in Dimona zielen die Extremisten inzwischen ab.
Die radikal-islamische Organisation könne mit Raketen wie der syrischen M-302 die Hafenstadt Haifa im Norden und vermutlich auch die Küstenstadt Eilat am Roten Meer erreichen, sagt Militärsprecher Peter Lerner. „Ganz Israel ist bedroht“, fügt er hinzu. Nach Angaben der Armee stellen die Raketen inzwischen schon für fünf Millionen von insgesamt acht Millionen Einwohnern eine Bedrohung dar.
Noch hat es keine Opfer unter den Israelis gegeben. Die Zahl der getöteten Palästinenser bei den massiven israelischen Luftangriffen im Gazastreifen - darunter sehr viele zivile Opfer - schnellt hingegen dramatisch in die Höhe. Doch die Raketenangriffe auf Israel gehen trotzdem weiter. Israel bereitet sich deshalb auf eine Ausweitung der Operation gegen Hamas und die mögliche Entsendung von Bodentruppen in das Palästinensergebiet vor. 20 000 Reservisten sind bereits eingezogen, die Hälfte des von der Regierung gebilligten Kontingents.
Lerner betont, eine Bodenoffensive bleibe für Israel die „letzte Option„. „Zeitpunkt und Ausführung müssen gut geplant sein“, sagt er. „Wir beraten immer noch über die Vor- und Nachteile.“ Ein namentlich nicht genannter Militär sagte der Nachrichtenseite „ynet“: „Die Entscheidung über den Zeitpunkt des Einmarschs wird binnen zwei bis drei Tagen getroffen werden.“
Israel ist bei dem Thema Gazastreifen ein gebranntes Kind und zögert noch, Fußsoldaten in das dicht besiedelte Palästinensergebiet zu schicken. Um den Raketenbeschuss Israels ganz zu unterbinden, könnte dies jedoch notwendig werden, meinen viele Militärs. Die Möglichkeiten der Luftangriffe könnten bald erschöpft sein.
Im Fall einer Bodenoffensive in dem Gebiet, das 2005 geräumt worden war, würde Israel jedoch auch Verluste in den eigenen Reihen riskieren - darauf reagiert die Bevölkerung erfahrungsgemäß sehr empfindlich. Dann könnte auch die Stimmung umschlagen und die öffentliche Meinung sich gegen die rechtsorientierte Regierung von Benjamin Netanjahu wenden. „Es ist leicht, nach Gaza reinzugehen, aber schwer, wieder rauszukommen“, lautet eine in Israel häufig geäußerte Warnung.
Eine dauerhafte Wiedereroberung des Gazastreifens strebt Israel nach Meinung der meisten Kommentatoren aber auch gar nicht an, obwohl einige rechtsgerichtete Minister genau dies fordern. Das einzige klare Ziel ist es, die Ruhe wiederherzustellen.
„Wir müssen der militärischen Infrastruktur der Hamas während dieser Operation einen schweren Schlag versetzen, der Fähigkeit zur Herstellung von Raketen, den Tunneln“, sagt Geheimdienstminister Juval Steinitz. „Wir müssen zeitweilig wieder die Kontrolle in Gaza übernehmen, für einige Wochen, um den Erstarkungsprozess der Hamas einzufrieren, diese Bildung einer Terrorarmee.“
Je mehr Opfer es unter den Zivilisten in dem dicht besiedelten Gebiet gibt, in dem die von der Armee angestrebten „chirurgischen Schläge“ gegen Extremisten praktisch unmöglich sind, desto mehr wird Israel international wieder in die Kritik geraten. Niemand macht sich jedoch in dem jüdischen Staat Illusionen darüber, dass eine Bodenoffensive auf Dauer für Ruhe sorgen wird. Solange es keine Friedensregelung in Nahost gibt, ist das Ziel solcher Militäraktionen immer nur, für einige Monate, bestenfalls Jahre Ruhe zu schaffen. Diese periodische Beschneidung der Macht von Hamas wird in Israel - etwas zynisch - als „Rasenmähen“ beschrieben.