Analyse: Kairo wartet auf Mursis Abgang
Kairo (dpa) - In Kairo hat derzeit jedermann eine klare politische Meinung. Selbst der Mann, der am Flughafen bei den Autofahrern die Standgebühr kassiert. „Mursi muss gehen. Ich kann keinen "Bärtigen" mehr sehen“, ruft er aus seiner Bude an der Parkplatz-Ausfahrt.
Der Vollbart bei Männern, wie ihn auch Ägyptens umstrittener Präsident Mohammed Mursi trägt, ist das Markenzeichen des politischen Islams. Im Nilland vertritt ihn die Muslimbruderschaft, aus der Mursi kommt. Die ideologischen Begrenzungen dieser lange Zeit verbotenen Organisation vermochte er in seiner einjährigen Präsidentschaft nie hinter sich zu lassen.
Nach landesweiten Protesten von Millionen Menschen lief am Mittwoch das Ultimatum aus, das die Militärführung Mursi gestellt hatte. Bis zum Abend war die Lage unübersichtlich. Eine vom Militär angekündigte Erklärung ließ auf sich warten. Zuvor hatte Mursi erneut einen Rücktritt abgelehnt und sein Angebot der Bildung einer umfassenden Koalitionsregierung wiederholt. Gleichzeitig suchte die Armeeführung bei einem Krisentreffen mit Vertretern politischer und religiöser Gruppierungen und Parteien nach einem Ausweg aus der Krise. Der außenpolitische Berater von Mursi, Essam al-Haddad, empörte sich: „Lassen Sie uns das, was geschieht, bei seinem richtigen Namen nennen: Militärputsch.“
Am Abend rollten erstmals Panzer durch die Straßen von Kairo. Eines der Ziele: die Kairoer Universität, wo die Mursi-Anhänger weiter demonstrierten und wo es in der Nacht zuvor Schießereien mit 20 Toten gegeben hatte. Die Truppen sollten „Gewaltakte verhindern“, hieß es von offizieller Seite. Hubschrauber kreisten über der Stadt. Die Ahnung von Militärputsch nahm eine etwas konkretere Gestalt an.
Die Banken wurden am Mittwoch geschlossen. Der Verkehr in den Straßen war mäßig. Dennoch zeigte niemand Anzeichen von Panik. Nachdenklichere Bürger äußerten die Besorgnis, dass die Lage weiter eskalieren könnte. Dass sich die Muslimbruderschaft nicht in die Absetzung „ihres“ Präsidenten fügen und gewaltsamen Widerstand leisten würde. „Ohne Blutvergießen wird es nicht abgehen“, erwartete ein Passant im Zentrum von Kairo. Bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Anhängern und -Gegnern waren schon in den vergangenen Tagen Dutzende Menschen ums Leben gekommen.
Andere nahmen es ruhiger auf. „Es ist vorbei, er hat ausgespielt, und er weiß es sogar selbst“, meinte der 50-jährige Beamte Osama Bakri, der in den Mittagsstunden, kurz vor Ablauf des Militär-Ultimatums, in einem Straßencafé genussvoll seine Wasserpfeife rauchte. Gefühlte 99 Prozent der Ägypter seien gegen Mursi. Er und die Muslimbrüder hätten den Islam missbraucht. Ehemalige Mitglieder der islamistischen Terrororganisation Gamaa Islamija seien von Mursi umworben und mit Ämtern ausgestattet worden. „Um die Bevölkerung zu terrorisieren“, fügte Bakri hinzu.
Auf dem Tahrir-Platz, dem Epizentrum der Revolution vor mehr als zwei Jahren, herrschte bei der riesigen Menge der Demonstranten gegen Mursi Jahrmarktstimmung. Straßenhändler boten Snacks und Sticker an, mit Aufschriften wie „Irhal !“ (Hau ab!), eine Parole, die man schon im Januar und Februar 2011 dem damaligen Autokraten Husni Mubarak entgegengeschleudert hatte. Eine Gruppe von Demonstranten trug einen selbst gebastelten Sarg mit Mursis Konterfei herum. „Wenn Mursi nicht zurücktritt, werden wir zu seinem Palast gehen“, kündigte der Landwirtschaftsstudent Ahmed Abdel Hamid (19) an. „Das wird sein Ende sein, denn wir sind Millionen.“
Die Demonstranten führten immer wieder dieselben Klagen gegen Mursi an: er habe sich nicht um die Nöte des Volks gekümmert, die Wirtschaft vernachlässigt, nur den Ausbau der eigenen Macht betrieben. Mursis Anhänger sehen dagegen den Präsidenten als das Opfer einer Verschwörung, die von den angeblich immer noch mächtigen Exponenten des gestürzten Mubarak-Regimes angeführt wird. „Die Polizei und die Armee haben den legitimen Präsidenten verraten“, meinte der Innendekorateur Mohammed Mansur. „Die auf dem Tahrir-Platz sind Tagediebe, bezahlt von der (Ex-Mubarak-Partei) NDP und von den Golfstaaten.“