Analyse: Kanzlerin ohne Koalition
Berlin (dpa) - Selten waren Koalitionsverhandlungen in Deutschland schon vor ihrem Beginn so vertrackt wie nach dieser Bundestagswahl.
Es gibt zwar einen unbestrittenen Wahlsieger, aber keinen Verlierer, der mit ihm zusammenarbeiten will. Und das, obwohl höchste Posten in Deutschland zu vergeben sind, um die sich - von außen betrachtet - eigentlich jeder Politiker reißen müsste.
Die Union von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist wegen fünf fehlender Mandate zur absoluten Mehrheit darauf angewiesen, dass sich SPD oder Grüne ihrer „erbarmen“, wie es Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) am Wahlabend etwas scherzhaft ausgedrückt hat. Nun wird die Lage aber langsam ernst.
Die SPD hat auf dem Merkel-Dampfer schon einmal Schiffbruch erlitten, als sie 2009 auf 23 Prozent geschrumpft aus der großen Koalition hervorging. Und vor allem die Grünen haben den Untergang von Merkels kleinerem Koalitionspartner FDP 2013 vor Augen. Opposition erscheint ihnen da gar kein so großer Mist zu sein, wie es Ex-SPD-Chef Franz Müntefering einmal behauptete. Die in der SPD einflussreiche NRW-Ministerpräsidentin einer rot-grünen Koalition, Hannelore Kraft, will jedenfalls keine große Koalition im Bund.
Merkel wäre diese Konstellation hingegen am liebsten. Je stabiler die Regierung, desto besser. Das ist laut Umfragen auch der Wille der Bürger. Die Kanzlerin hätte mit dann insgesamt 503 Mandaten (311 Union, 192 SPD) von 630 Sitzen keine Sorgen mehr, ob es ein paar Abweichler in ihrer eigenen Partei bei der Euro-Rettung gibt oder nicht. Auch die Energiewende - das andere höchst problematische Thema - könnte sie mit der SPD am besten angehen. Hier ist ein großer Wurf nötig, in den auch die Grünen eingebunden werden müssten.
Doch auch wenn die SPD nur knapp 26 Prozent hat - sie muss sich sehr teuer verkaufen, um das Wagnis einer Koalition mit Merkel einzugehen. Und die Union wird mit ihren 41,5 Prozent keine Verhandlungen auf Augenhöhe führen wollen. Die gleiche Anzahl von Ministerposten im Kabinett wie 2005 werde es nicht geben, sagt einer, der damals dabei war. Es seien aber Brücken absehbar, über die Sozial- und Christdemokraten und Christsoziale gehen könnten.
Da ist der Mindestlohn, den die SPD gesetzlich verankern will. Merkel will das den Tarifkommissionen überlassen. Es käme vielleicht auf die Höhe der Lohnuntergrenze - die SPD will 8,50 Euro - an, bei der Merkel als Grundlage für Gewerkschaften und Arbeitgeber einschlagen würden. Thema Mietpreisbremse: Hier liegen Union und SPD nicht weit auseinander. Steuererhöhungen: Für die Union zuvor völlig ausgeschlossen und schon am dritten Tag nach der Wahl nicht mehr im Bereich des Unmöglichen. Erst einmal reden, sagen CDU-Spitzenleute. Höhere Mütterrente: Ein Versprechen der Union, die SPD ist nicht abgeneigt.
Doch die Sozialdemokraten lassen Merkel nun zappeln. Erst einmal muss der Parteikonvent entscheiden, ob Verhandlungen aufgenommen werden dürfen. Vielleicht gibt es sogar eine Mitgliederbefragung über das Ergebnis. Ausgang offen. Das sei einer so eindeutig von den Wählern gewollten Kanzlerin ziemlich unwürdig, heißt es in der CDU.
Der Union kommt nun zugute, dass sich die Grünen nach ihrer Wahlschlappe erneuern. Mit Jürgen Trittin setze er sich nicht an einen Tisch, verkündete CSU-Chef Horst Seehofer gewohnt apodiktisch, um nach Trittins Abgang wieder alles offen zu halten. Mit dem Argument, dass alte Fronten durch neue Grüne aufgebrochen werden könnten, macht sich die Union weniger erpressbar durch die SPD als ohne Grünen-Option.
Schon melden sich Merkels Partei-Vizes Armin Laschet und Julia Klöckner, die sich Gespräche mit der Öko-Partei vorstellen könnten. Die Energiewende wäre mit den Grünen glaubwürdig zu entwickeln, irgendeine Steuererhöhung wäre auch zu machen - allerdings nicht eine Vermögensteuer, heißt es intern. Doch die Kultur und das Selbstverständnis beider Parteien sind so gravierend anders, dass sich Merkel kaum vorstellen kann, wie die Basis von CDU, CSU und Grünen auf Parteitagen von einem Koalitionsvertrag überzeugt werden soll.
Die Union verfolgt den ganzen Poker noch mit einiger Gelassenheit. Merkel sicherte SPD-Chef Sigmar Gabriel zu, seinen Konvent am Freitag selbstverständlich abzuwarten. Auch die Grünen haben am Wochenende einen kleinen Parteitag. Danach könne telefoniert und womöglich in der nächsten Woche erst einmal ein Sondierungsgespräch mit der SPD vereinbart werden, heißt es in der CDU.
Und wenn SPD und Grüne doch alles platzen lassen und auch kein Bündnis mit der Linken eingehen und Neuwahlen nötig sind? Das gab es in der Bundesrepublik noch nie, sagt ein Kabinettsmitglied. Dann sei ihm aber gar nicht bange: Die Union bekäme die absolute Mehrheit, und die FDP wäre wieder drin.