Analyse: Kein Grund für radikalen Umbruch

Rio de Janeiro (dpa) - Das große Finale gegen Argentinien markiert den absoluten Karriere-Höhepunkt für die 23 deutschen WM-Spieler - aber nicht die Ziellinie.

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Bundestrainer Joachim Löw sieht nach der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien keinen Anlass für einen radikalen Umbruch auf dem Weg zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich und der nächsten WM-Endrunde 2018 in Russland.

„Wir haben sicherlich Spieler, die jetzt im Moment auf ihrem Zenit spielen, klar“, sagte Löw vor dem größten Spiel auch seiner Laufbahn als Trainer am Sonntag in Rio de Janeiro, „aber wir haben viele jüngere Spieler in unserer Mannschaft.“ Das Fundament sei top: „Ich glaube, dass wir schon das Potenzial haben, auch die nächsten Jahre in der Weltspitze sein zu können. Mit dieser Mannschaft oder vielleicht auch mit dem einen oder anderen Spieler, der dazu kommt.“

Allein der 36 Jahre alte WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose hatte vor dem zweiten WM-Finale seiner Karriere in der Fußball-Kultstätte Maracanã einen Rückzug aus der Nationalelf nach mehr als 13 Jahren angedeutet. „Ich genieße jeden Moment, den ich auf dem Platz stehen kann“, erklärte der Teamsenior vor seinem 137. Länderspiel, das ihm die Krönung bei seinem siebten großen Turnier bringen sollte. Über seine Zukunft entscheide er „spontan“, kündigte Klose hin- und hergerissen an: „Ich kann leider noch, das muss ich betonen!“

Das gilt für seine 22 Teamkollegen erst recht. Auch wenn gerade bei den Älteren mit mehr als 100 Länderspielen die Strapazen einer langen Profi-Karriere Spuren hinterlassen haben und körperlich Tribut fordern. „Beschwerdefrei findet man selten vor bei uns im Sport“, bemerkte Philipp Lahm. Der rational denkende Kapitän äußerte während des Aufenthaltes in Brasilien beim Blick nach vorne: „Ich finde es schön, drei Weltmeisterschaften auf drei verschiedenen Kontinenten erlebt zu haben. Ob es die letzte ist, werden wir alle sehen.“ Er sei sich dieser Möglichkeit „bewusst“, dass es die letzte WM für ihn gewesen sein könnte. Der Münchner wäre 2018 in Russland 34.

Bastian Schweinsteiger wird 19 Tage nach dem Finale seinem Bayern-Kollegen Lahm in die Ü 30-Gruppe folgen, Abwehrrecke Per Mertesacker Ende September. Schweinsteiger mag aber trotz vieler Verletzungen in den vergangenen Jahren nicht über ein Ende im Nationaltrikot sinnieren. „Ich bin 29. Ich glaube, das ist ein ganz gutes Alter. Ich kann sicherlich noch eine WM spielen, wenn alles funktioniert bei mir“, sagte Schweinsteiger, der jede große Partie ganz bewusst genießt: „Mit 29 freut man sich auf jedes Spiel.“

Das nächste große Ziel für Lahm, Schweinsteiger, Podolski und Co. ist die Europameisterschaft in Frankreich in zwei Jahren. Da geht es um den vierten Kontinental-Titel für Deutschland nach den Triumphen 1972, 1980 und zuletzt 1996. Lahm sieht eine „gereifte Mannschaft“, die von einer Vielzahl an Talenten profitiert. Aber auch besonders davon, dass viele Akteure bei internationalen Vereinen spielen, in der Champions League und in Länderspielen viel Erfahrung sammeln konnten. „Unsere Generation weiß, worum es geht“, betonte der Kapitän.

Der 23-köpfige deutsche Kader brachte es vor dem Finale in Rio auf einen beachtlichen Schnitt von 45,7 Länderspielen, der Altersschnitt betrug 25,7 Jahre - viel Routine in einem Alter mit Perspektive. „Die Mannschaft ist gefestigter“, sagte Schweinsteiger zur Entwicklung, die er seit dem Scheitern in der EM-Vorrunde 2004 in Portugal komplett mit durchlief. Damals seien die Leistungszentren in Deutschland forciert worden: „Jetzt erntet man ein bisschen.“ Schweinsteiger nannte Spieler wie Thomas Müller, Mesut Özil, Mario Götze oder Marco Reus, der sich kurz vor der WM verletzt hatte.

Noch sind Lahm, Schweinsteiger (beide 6 Turniere) und Mertesacker (5), in Brasilien noch einmal unterstützt von Turnier-Veteran Klose (7), die Wortführer und Leitfiguren. Aber die neuen Führungskräfte stehen längst bereit. Die Generation um Torwart Manuel Neuer (28), Sami Khedira (27), Benedikt Höwedes (26), Mats Hummels (25), Mesut Özil (25), Jérome Boateng (25), Thomas Müller (24), Toni Kroos (24) sowie die Jungstars André Schürrle (23) und Mario Götze (22) verheißt viel. „Diese Spieler sind noch ziemlich jung, die können schon noch einige Jahre spielen“, erklärte Löw.

Der Bundestrainer verwies mit Blick auf die kommenden sportlichen Herausforderungen auch explizit auf prominente Abwesende, die er ursprünglich für eine Hauptrolle in Brasilien vorgesehen hatte. „Zum Beispiel Marco Reus oder Ilkay Gündogan. Spieler, die normalerweise, so glaube ich zumindest, eine ganz, ganz große Zukunft vor sich haben.“ Dazu kommen die Bender-Zwillinge, womöglich auch der seit mehr als anderthalb Jahren verletzte Bayern-Verteidiger Holger Badstuber, der schon die WM 2010 und die EM 2012 gespielt hat. Auch WM-Azubis wie der Schalker Julian Draxler oder der Freiburger Matthias Ginter (beiode 20) sind Hoffnungsträger Richtung 2018.

Auch Mario Gomez hatte Löw ausdrücklich nicht abgeschrieben, als er den Torjäger nach einer von Verletzungen geprägten Saison beim SC Florenz nicht für die WM nominierte. „Seine Karriere in der Nationalmannschaft ist auf keinen Fall beendet“, versicherte Löw Anfang Mai. Gomez könnte Klose ersetzen, immerhin war der 29-Jährige bei der EM 2012 mit drei Treffern erfolgreichster deutscher Schütze.

Am 3. September beginnt ausgerechnet mit einem schon lange ausgemachten Freundschaftsspiel gegen Finalgegner Argentinien in Düsseldorf der neue Länderspielzyklus. Vier Tage später startet in Dortmund gegen Schottland die Qualifikation für die EM 2016. Da könnte es schon erste personelle Fingerzeige geben. Die Generation 2014 aber wird unvergessen bleiben. Beim Auszug aus dem WM-Stammquartier, dem Campo Bahia in Santo André, hatte Kapitän Lahm scherzhaft bemerkt: „Ich glaube, wir treffen uns in 20 Jahren alle wieder und besetzen die Häuser genauso wie jetzt.“