Analyse: Krisengespräche und Kassandra Joschka Fischer

Berlin (dpa) - Auf Rainer Brüderle ist Verlass. Seit einer Stunde plätschert die Debatte über den bevorstehenden G20-Gipfel in Mexiko zu den aktuellen Sorgen der Welt schon dahin. Ganze Reihen im Bundestag sind am Donnerstag leer geblieben und von den erschienenen Politikern sind viele beschäftigt - aber weniger mit Zuhören.

Das wird mit dem Auftritt des FDP-Fraktionschefs anders. Doch dazu später.

Innenminister Hans-Peter-Friedrich (CSU), der gerade Razzien bei Salafisten angeordnet hat, simst - heimlich unter dem Tisch. Das tut auch Linksfraktionschef Gregor Gysi, der am Abend auf den Genossen Oskar Lafontaine trifft, mit dem er sich in die Wolle bekommen hat. Der neue Umweltminister Peter Altmaier (CDU) „frisst Akten“ - dafür ist er bekannt. Viele Abgeordnete sind abgelenkt oder wirken müde.

Selbst bei Union und FDP gibt es nur spärlichen Beifall für die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Gipfel der Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer an diesem Montag und Dienstag in Los Cabos. Die Überwindung der Finanzkrise, des Hungers in der Welt und der Umweltverschmutzung seien ein mühsamer Weg, auf dem man derzeit nur im Schneckentempo vorankomme. Merkel wiederholt, dass in der Eurokrise alle Augen auf Deutschland als große Exportnation gerichtet seien, Wachstum und Sparen Hand in Hand gehen müssten, Deutschland nicht überfordert werden dürfe und Europa nach der Währungsunion endlich auch eine politische Union werden müsse.

Die spärlich gefüllten Reihen im Plenum vor Augen, ruft sie den Abgeordneten die Bedeutung des Gipfels in Erinnerung: „Ich würde sagen, er liegt im Interesse des gesamten Deutschen Bundestags.“

Die erste lautstarke Reaktion erntet sie nach 19 Minuten, als sie sagt: „Wir machen doch nicht Politik im Auftrag der Märkte, sondern der Menschen!“ Die Koalition klatscht. Die Opposition protestiert, denn für SPD, Grüne und Linke macht die schwarz-gelbe Regierung genau das: Politik für die Banken und Finanzmärkte.

Aber auch die Rede von SPD-Fraktionschef Frank Walter Steinmeier reißt seine Leute nicht von den Stühlen. Dabei rückt er die Menschen in den Mittelpunkt. Sie litten unter der Finanzkrise, für die sie nicht verantwortlich seien, sie aber bezahlen müssten. Er geißelt Merkels Haltung, weil sie von Staatsschuldenkrise spreche und so Banken und Finanzjongleuren zur Flucht aus der Verantwortung helfe. Argumente und Gegenargumente sind schon mehrfach ausgetauscht worden.

Aber dann kommt Brüderle - und plötzlich sind alle wach. Es wird geklatscht und gejohlt - von allen Seiten. Der 66-Jährige kämpft in seiner Lieblingsdisziplin: Grünen-Schelte. Sicher auch sauer, dass diese als Gegenleistung für ihre Zustimmung zum EU-Fiskalpakt immer mehr Forderungen wie die Altschuldenklärung stellten, legt er los.

Der im Berliner Westen wohnende Ex-Ober-Grüne Joschka Fischer warne via Medien vor einem Feuer in Europa. Dabei habe gerade er als damaliger Außenminister gegen EU-Regeln verstoßen und „währungspolitische Brandsätze“ gelegt wie mit Griechenlands Aufnahme in den Euro. „Der Stabilitätspaktbrecher Joschka Fischer erklärt uns die Welt.“ Das sei schäbig. „Die Kassandra aus dem Grunewald“, nennt er Fischer und die Grünen eine „Schicki-Micki-Partei“.

„Zugabe“ ruft Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. Vielleicht auch, weil Kassandra nach griechischer Mythologie Unheil voraussieht, aber nicht gehört wird. Gysi ruft Brüderle zu: „Sie retten die FDP nicht mit Pöbeleien gegen die Grünen.“

Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) nutzt die Debatte für die Verhandlungen mit der Opposition über die Zustimmung zum Fiskalpakt. Die Koalition braucht dafür eine Zweidrittelmehrheit, die sie im Bundestag nicht hat. Er bittet vor allem die Grünen, die Gespräche nicht durch derzeit unerfüllbare Forderungen zu belasten und Merkel bald grünes Licht zu geben, damit sie auf dem EU-Gipfel am 29. Juni mit starkem deutschen Rückhalt auftreten kann.

Währenddessen eilt Merkel schon zu einem Treffen mit den Fraktionen zum Fiskalpakt. Die Botschaft: Die Opposition will dem Vertrag wohl rechtzeitig zustimmen. „Ist doch gut gelaufen“, sagt Merkel im Fahrstuhl. Am Nachmittag noch ein kleiner Erfolg: Nach einem Gespräch mit den Kritikerinnen in der CDU über das umstrittene Betreuungsgeld kann die Kanzlerin Fronten aufbrechen. Noch ist zwar die eigene Mehrheit nicht sicher, aber die Chancen stehen besser.