Analyse: Londons Krawalle erinnern Franzosen an ihre Banlieues
Paris (dpa) - Die Bilder aus Großbritannien von Straßenschlachten, brennenden Häusern und geplünderten Geschäften wecken in Frankreich böse Erinnerungen.
Sie seien in gewisser Weise eine Antwort auf die schwere Krawall-Serie, die die Grande Nation noch vor sechs Jahren in Atem hielt, befand der „Figaro“ am Mittwoch. Seit den späten 70er Jahren kommt es in den Trabantenstädten - den Banlieues - regelmäßig zu radikalen Gewaltausbrüchen. Oft genügt ein Zwischenfall oder Gerücht über Polizeiwillkür, um den Funken ins soziale Pulverfass überspringen zu lassen.
Der Name Banlieue (ursprünglich: „Bannmeile“) wurde in Frankreich zum Synonym für soziale Probleme. Die riesigen Betontürme in den Vorstadtgürteln aus den 60er oder 70er Jahren sollten die Wohnungsmisere lösen helfen, verkamen aber schnell zu Ghettos mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, schlechter Infrastruktur und Kriminalität aller Art. 2005 wuchsen sich die Krawalle dann zu einem regelrechten Flächenbrand in mehr als 300 Kommunen aus.
Die Regierung stellte danach 100 Millionen Euro pro Jahr für Vereine bereit, die in den sozialen Brennpunkten mit Sportangeboten, der Organisation von Nachhilfe und sozialer Betreuung wichtige Integrationsarbeit leisten. Das „Programm Hoffnung“ wurde ins Leben gerufen, um jahrzehntelange Fehlentwicklungen zu korrigieren und die tristen Vororte der großen Metropolen mit Milliarden-Aufwand wiederzubeleben. Bis 2013 sollten 35 Milliarden Euro in die Sanierung der Problemviertel fließen; einen „Marshall-Plan für die Vorstädte“ hatte Präsident Nicolas Sarkozy versprochen, mit Akzenten auf den Bereichen Beschäftigung, Verkehrsanschluss und Bildung.
Doch kaum zwei Jahre später zog die Zeitung „Libération“ ein vernichtendes Fazit: „Präsident Sarkozy hat mit seinem "Marshallplan" für Problemviertel jämmerlich versagt. Die Vermittler in den Stadtvierteln wurden abgeschafft, die Geldmittel gekürzt und die Sicherheit zur alleinigen Priorität erhoben.“ Zum fünften Jahrestag der vom Pariser Vorort Clichy-sous-Bois ausgegangenen schweren Krawall-Serie zog ein französisches TV-Team im vergangenen Jahr vor Ort einen ähnlich ernüchterndes Schluss. Von ungenügenden, kleinen Schritten war die Rede.
Die Vorstadt, die einst das Scheitern des französischen Integrationsmodells symbolisierte, habe zwar ein neues Wohnviertel mit vier- bis fünfstöckigen neuen Wohngebäuden. Doch abgesehen von einigen umgesiedelten Familien habe sich für den Rest der Bewohner kaum etwas geändert. Noch immer gebe es etwa im Ortsteil Chêne Pointu zehnstöckige Hochhäuser, deren Aufzüge seit Jahren kaputt sind. Die zunächst von der Stadtverwaltung organisierte schulische Nachhilfe wurde dem Bildungsministerium übertragen - und nun werden die Mittel knapp. Und die öffentliche Verkehrsanbindung an die zwölf Kilometer entfernte Hauptstadt Paris bleibt mit anderthalb Stunden Busfahrt problematisch - eine Straßenbahnlinie soll frühestens 2015 kommen.
Die zunehmend radikaler werdenden Proteste haben die Regierung verschreckt und zu immer neuen Versprechungen verleitet. Zugleich zeigte sie jedoch Härte, wenn Jugendkrawalle wie im vergangenen Jahr bei den Protesten gegen die umstrittene Rentenreform politische Forderungen überlagern. Der eigentliche Protest-Anlass tritt dabei oft in den Hintergrund. Sogenannte Casseurs - vermummte Randalierer - nutzten in Lyon - ähnlich wie in London - die Gunst der Stunde: Brennende Autos oder zerschmetterte Schaufenster gingen einher mit Plünderungen ganzer Geschäftszeilen. Die Gewaltbereitschaft war so hoch, dass verschreckte Medien von „einer Stadtguerilla“ sprachen.